Wintersport bedeutet in Osttirols Villgratental noch wirklich Sport. Liftanlagen sucht man genauso wie Partystadel vergeblich. Dafür gibt es traumhafte Reviere für Tourengeher, urige Bergbauernhöfe und viele Originale
Schweineborsten, herrliche Schweineborsten! Weißt du eigentlich, dass ich die Borsten für die Haarbürsten selbst mische? Kurze mit langen Borsten, damit sie tiefer gehen und die Kopfhaut mitmassieren!“ Ludwig Rainer aus Innervillgraten in Osttirol ist einer der letzten Bürstenmacher Österreichs und ein Bürstenconnaisseur.
Aber er ist nicht nur das, sondern auch ein begeisterter Erzähler. Deshalb ist es empfehlenswert, etwas mehr Zeit einzuplanen, auch wenn man nur schnell eine neue Bürste oder einen Besen kaufen will.
„Handgemachte Bürsten sind wie Menschen. Sie sind im Inneren gleich, aber äußerlich unterscheiden sie sich. Wusstest du, dass eine Schweineborste eher einem Fingernagel entspricht? Sie filzt auch nicht, tolle Qualität!“, so Ludwig Rainer.
260 Kilometer südlich von München und eine eigene Welt
Schon erstaunlich, was man an einem Wochenende in den Bergen so alles lernt. Eigentlich war ich nur zum Skitourengehen ins Osttiroler Villgratental gekommen, 260km südlich von München, an der Grenze zwischen dem Südtiroler Pustertal und Österreich. Und jetzt stehe ich in einer Werkstatt und erfahre alles über Borsten, obwohl ich doch nur eine Bürste erstehen wollte, um meine Skiausrüstung vom Schnee zu befreien.
Pulver und Sonne an der Hochgrabe
Villponer Lenke, 2.550m über dem Meeresspiegel, zwei Stunden zuvor. Die Sonne brennt, der Schnee gleißt, der Schweiß fließt. Ich schreie Flüche in den makellos blauen Winterhimmel. Bis über die Hüfte stecke ich in einem Steilhang im Pulver fest und kann mich kaum mehr bewegen. Nach vier Stunden Aufstieg wollte ich gerade den ersten Schwung fahren, als beide Skibindungen aufgehen und ich Hals über Kopf den Hang hinuntersegle.
20 Minuten später haben meine freundlichen Tourenbegleiter die Ski gefunden und mich aus dem Schnee gezogen. Bergführer Hannes hat routiniert meine Bindung fester eingestellt und mit noch etwas wackeligen Knien beginne ich die Abfahrt ein zweites Mal. Und weil es der Skigott jetzt gut mit mir meint, legt er mir ganz lockeren Pulverschnee unter die Bretter und lässt mich durch den Schnee stauben.
Das Villgratental als Basis für perfekte Skitouren
Frühmorgens habe ich mich mit Hannes Grüner und einer Gruppe Tourengeher aus dem Ruhrgebiet getroffen. Gemeinsam ziehen wir an einer Forststrasse oberhalb vom Dorf Innervillgraten die Felle auf unsere Ski. Dann steigen wir durch dichten Tannenwald am Rand des Einettals langsam höher. Unser Tempo ist gemütlich, für alle – außer für Hannes – ist es die erste Skitour des Winters, da sind 1.000 Höhenmeter bis zur Villponer Lenke genug.
Wir passieren die vom Wetter dunkelbraun gebeizten Hütten der Schmidhoferalm und spuren durch kniehohen Neuschnee in Richtung Hochgrabe. Hannes nennt sie „Königin der Villgrater Berge“, da ihr Gipfel mit 2.951m der Dritthöchste der Region ist und aufgrund der exponierten Lage einen spektakulären Panoramablick über das Villgratental hinaus bietet.
Auf unserem Weg durch das sich weitende Tal lugt an einigen Stellen der Einetbach unter dem Schnee hervor. Außer dem Gurgeln des Wassers und dem Knirschen des Schnees unter unseren Skiern herrscht himmlische Ruhe.
Villgratental: Jagdgebiet schon zur Steinzeit
Bei einer Pause vor dem Einstieg in steiles Gelände erzählt Hannes ein wenig über die Geschichte des Villgratentals. Aufgrund archäologischer Funde aus der Mittelsteinzeit vermuten Wissenschaftler, dass damals schon Jäger das Tal durchstreift haben.
Später in der Römerzeit nutzten Viehhirten die Weideflächen der Region für ihre Herden. Übrig geblieben sind romanische und rätoromanische Flurnamen wie „Casa“ oder „Valsella“, die auch heute noch in Gebrauch sind. Im Wort Villgraten steckt „vallis acerati“, was soviel wie Tal des Ahorns bedeutet und sich über „Ualgratto“ bis zum „Villgraten“ weiterentwickelt hat.
„Auf geht´s“, ermuntert uns Hannes und wir nehmen den letzten Steilhang hinauf zur Villponer Lenke in Angriff. Oben auf dem Kamm pfeift uns der Ostwind gehörig um die Ohren; deshalb queren wir etwas unterhalb in den makellos weißen Hang hinein, um uns für die Abfahrt bereit zu machen.
Auf Skiern in die Stille der Ostalpen
Dass diese durch meinen Sturz etwas verzögert wird, tut unserer Freude über die unberührten Hänge keinen Abbruch. Die Freudenschreie, wenn uns der Pulver bis ins Gesicht staubt und die strahlenden Gesichter während der Verschnaufpausen, sind Beweis genug.
Aber warum gerade zum Skifahren ins Villgratental? Weil ich keine Lust auf Megaskischaukeln habe und mir das Geplärr vom „Anton aus Tirol“ auf die Nerven geht. Ich habe auch kein Interesse schon ab 11 Uhr vormittags „Jagertee non limit“ zu trinken. Darüber hinaus will ich mir auf eigenen Beinen die Abfahrt erlaufen, in der Stille der Berge mein Herz schlagen hören und unberührte Pulverschneehänge hinuntersausen.
Alpinistische Vielfalt in Osttirol
Das etwa 1.400m hoch gelegene Villgratental erfüllt diese Vorstellungen. Es ist an keine Skischaukel angeschlossen und man hat sich schon Anfang der neunziger Jahre gegen Bettenburgen und Großinvestitionen entschieden.
So ist die Region über die Jahre vor allem für Tourengeher zum Dorado geworden. Sie schätzen die alpinistische Vielfalt des Gebiets und sitzen abends in den Gaststuben zusammen, um mit topografischen Karten über der Tour für den nächsten Tag zu beratschlagen.
Auf zur Alfenalm
Als wir mit Hannes nach der herrlichen Tiefschneeabfahrt wieder am Parkplatz im Villgratental stehen, trennen sich unsere Wege. Während die Anderen in den „Gannerhof“ zurückkehren, einem wunderbar gemütlichen und mit hervorragender Küche ausgestatteten kleinen Hotel in einem ehemaligen Bauernhof aus dem 18. Jahrhundert, beziehe ich meine in 1.700m Höhe gelegene Holzhütte auf der Alfenalm.
Vom Parkplatz im Weiler Kalkstein steige ich mit meinem Gepäck noch einmal zehn Minuten bergauf, dann liegt das Almdorf Alfenalm vor mir. Almdorf deshalb, weil hier mehrere rustikale Hütten wie in einem Dorf beieinander stehen. Etwas abseits, direkt am Waldrand, liegt mein Domizil: Einfache, holzgetäfelte Kammern, die Küche mit altem Ofen und das Plumpsklo vor der Tür. Fließend Wasser gibt es nur in eiskalter Ausführung in der Küche, die – dem Herd sei Dank – auch der einzig beheizbare Raum ist.
Vielleicht war die Idee, ein Wochenende alleine in einer Almhütte zu verbringen, doch falsch, denn etwas einsam fühle ich mich jetzt schon. Netterweise aber hat mein Vermieter Josef eingeheizt und mir neben Speck, Butter und Brot noch eine Flasche Rum dagelassen.
Alleine auf der Alm im Villgratental
Also hänge ich meine verschwitzten Klamotten zum Trocknen auf und setze mich an den Tisch. Durch das Fenster beobachte ich, wie es draußen langsam dunkel wird. Die erleuchteten Fenster der anderen Hütten glimmen durch den beginnenden Schneefall zu mir herauf, der Rum wärmt mich von innen.
Almdörfer als Ausdruck bäuerlichen Lebens
Die Almdörfer sind charakteristisch für das Villgratental. Um für die durch Erbteilung immer kleiner werdenden Höfe ausreichend Bewirtschaftungsflächen zu schaffen, wichen die Bewohner früher in den Sommermonaten auf hochgelegene Almwiesen aus und wohnten dort mitsamt ihren Tieren in zweistöckigen Almhütten, im Dialekt „Kasern“ oder „Kammern“ genannt. Unten der Stall für die Tiere, oben die Zimmer für die Bauern.
Erst Mitte der 60er Jahre, als die Almen im Villgratental auch motorisiert erreichbar wurden, verloren die Almdörfer ihre Aufgabe, da die Bauern nach erledigter Arbeit wieder ins Tal fahren konnten. Seit einigen Jahren hat man das touristische Potential erkannt und vermietet die Hütten ganzjährig. Heute gibt es neben der einfach ausgestatteten Variante auch einige mit Dusche, warmem Wasser und sogar Sauna.
Kühle Nacht in der Almhütte
Wie einfach ich hier hause wird mir klar, als ich alle zwei Stunden den Herd, meine einzige Wärmequelle, neu schüren muss. Kurz bevor ich in meiner Kammer in den Schlafsack schlüpfe, stelle ich die Butter in den Flur. Schließlich soll sie ja über Nacht nicht in der Wärme stehen.
Am nächsten Morgen wache ich frierend auf, haste in die eiskalte Küche und bemühe mich, den Herd in Gang zu bringen. Als ich die Butter aus dem Flur hole, fällt mein Blick auf das Thermometer und dann wundert mich der vereiste Fettklotz nicht mehr: Das Quecksilber steht bei -18°.
Auf Skitour zum Roten Kinkele
Etwas steif gefroren erscheine ich am vereinbarten Treffpunkt mit meinem Bergführer Charly Anderl. Den Tag verbringen wir auf den baumfreien Hängen des Roten Kinkele, einem markanten Berg gegenüber der Hochgrabe. Die Bedingungen sind ideal: blauer Himmel, Windstille und über Nacht zwanzig Zentimeter Neuschnee.
Dass ich mir beim Aufstieg meine Knöchel wund reibe, vergesse ich ganz schnell beim Erreichen des 2.763m hohen Gipfels, denn südlich von uns stehen die Dolomiten zum Greifen nahe: der Langkofel, die Cristallogruppe und die drei Tofanen. Weit unter uns liegt die Kamelisenalm, die wir beim Aufstieg passiert hatten, die Dächer zwei Meter dick mit Schnee bedeckt.
Powdern im Steilhang
Bevor Charly und ich zur Abfahrt starten, zwinkern wir uns zu, weil wir wissen, welche Freude uns erwartet. Und tatsächlich sind die Glücksgefühle kaum zu beschreiben, die wir auf 1.100 Höhenmetern bergab ins Villgratental erleben.
Wir springen über kleine Hügel, sausen auf firnigen Oberflächen dahin, wedeln durch pulvriges Weiß. Immer wieder bleiben wir stehen und schauen fasziniert auf unsere zwei Linien im Schnee. Besser kann ein Tourentag nicht sein, oder?
Fichtenholz, Metallarbeiten und Schafwolle
Doch, kann er. Weil ich nämlich nach unserer Rückkehr ins Villgratental kurz entschlossen ein Zimmer im „Gannerhof“ buche und bald darauf in ein nach Fichtenholz duftendes Zimmer einziehe, das sogar angenehm temperiert ist.
Die Türen und Lampen sind kunstvoll vom Dorfschmied Alfons Steidl mit Metall beschlagen. Die bequemen Matratzen, Kissen und Decken in den Bauernbetten kommen vom Schafwolle verarbeitenden Betrieb „Villgrater Natur“ ebenfalls aus dem Tal.
Außer abstrakten Schwarzweiß-Fotografien wird wohltuend auf modernen Alpenschick verzichtet. Das Haus lebt mit und durch seine 300-jährige Geschichte. Die uralten Dielenböden knarzen, alles Holz ist unbehandelt und voller Patina, Schafwolle aus dem Villgratental dient als Isolationsmaterial.
Nicht zu vergessen die hervorragende Küche von Chef Josef Mühlmann. „Als ich mit 15 nicht wusste, was ich machen sollte, nahm mich meine Mutter einfach mit in die Kuchl und da bin ich bis heute geblieben“, erzählt er, während es um uns herum in Kochtöpfen brodelt und in Pfannen brutzelt.
Fein Speisen im Villgratental
Oft habe er geflucht und mit seinem Schicksal gehadert, aber heute sei er froh darüber. „Kochen ist viel mehr als Menschen satt machen. Mit meiner Kreativität bereite ich ihnen Freude“, sagt er und holt einen dick mit Brotkruste umhüllten Lammbraten aus dem Ofen, „aber einen Klopfer haben wir Köche schon. Wer sonst stellt sich freiwillig zwölf Stunden in die Hitze?“
Als ich mich nach dem Abendessen auf Entdeckungstour durch das alte Bauernhaus aufmache, finde ich meinen zukünftigen Lieblingsplatz. Es ist das „Heubett“, eine mit Heu ausgelegte Nische im kleinen Ruheraum der Sauna.
Ich ziehe den Vorhang zu und döse ein. Bald träume ich von Schweineborsten, Touren auf unberührten, Pulverhängen und atemberaubenden Bergpanoramen. Und einem Tal, das sich hoffentlich noch lange selbst genug ist.
Mehr Lust auf Winter in den Bergen? Wie wäre es mit Bad Reichenhall? Oder Serfaus, Fiss und Ladis? Vielleicht steht euch aber auch der Sinn nach einer Saunatour durchs winterliche Finnland?
Villgratental
Infos
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Ihr wollt über das Villgratental hinaus mehr von Osttirol wissen, dann schaut auf www.osttirol.com vorbei.