Mit knapp über 150 Jahren ein Teenager unter den Metropolen: Toronto wird gerade erst erwachsen und entdeckt seine Coolness
Der britische Schauspieler Idris Elba („Luther“) schreit seine Meinung zu Toronto so laut ins Mikrofon, dass Kate Winslet neben ihm erst zusammenzuckt, dann in die Hände klatscht und glucksend lacht: „Toronto is fucking fantastic!“ Ihr Lachen wiederum geht im tosenden Gebrüll der Menge unter. Die tobt und freut sich.
„Sag’ ich doch schon immer“, ruft eine junge Frau mit Dreadlocks im Publikum und erntet ebenfalls Applaus. Es ist Filmfestzeit in Toronto, jährlich wandeln beim Toronto International Film Festival zehn Tage lang Hollywoodstars, Regisseure und Filmemacher über die roten Teppiche der kanadischen Stadt.
Und Elba ist bei Weitem nicht der einzige, aus dem die Begeisterung für diese Stadt plötzlich herausbricht. „I am in love with this city“, rief auch schon Julia Roberts vor Journalisten.
Toronto ist „Canada’s Downtown“
Endlich, endlich, scheinen die Hochglanz-Ego-Booster aus Hollywood auch bei den Einheimischen zu fruchten: Nach langen Jahren des Tiefstapelns ist man offen und lautstark stolz auf seine Stadt – obwohl das so gar nicht der kanadisch bescheidenen Natur entspricht.
Toronto ist trendy, nicht nur zu Zeiten des Filmfests. Die Touristenströme erreichten in den vergangenen Jahren beständig neue Höchstzahlen, die Stadt poliert und wienert das Image als „Canada’s Downtown“ beflissen auf. Will heißen: in „Kanadas Innenstadt“ trifft sich die Welt, alle sind herzlich willkommen und alle scheinen plötzlich heiß zu sein auf das offene, internationale und unprätentiös-coole Image, das die Stadt am riesigen Lake Ontario ausstrahlt.
Lange haben die Torontonians sehnsüchtig auf New Yorks shabby-chic geschielt, die quirligen Neighborhoods, Künstlergegenden und Ausgehviertel dort. Um irgendwann festzustellen: „Das können wir auch.“ Vielleicht in einem kleineren, dafür aber angenehmeren Rahmen. „Wir entwickeln ein neues, eigenes Selbstbewusstsein“, findet Modedesignerin Hayley Elsaesser.
Aufpoliertes Selbstbewusstsein
Galeriekonglomerate wie das 401 Richmond Building sind Treffpunkte für den stetig wachsenden Künstlernachwuchs. Musik-Trendsetter wie die Alternative-Band „The Beaches“ nutzen den – wie Elsaesser es nennt – „herrlich unbelasteten kreativen Nährboden“ der Stadt für frische Ideen. „Aber“, so die Designerin, „wir bleiben uns dabei treu. Und schön kanadisch.“
West Queen West: Hipster-Town
Übersetzt heißt das: nett, freundlich, weltoffen. Toronto ist mit seinen vielfältigen Stadtteilen ein Patchwork aus unterschiedlichen Vierteln, die von einem kollektiven Spaß-an-Kunst-und-Kulinarik-Ethos und einer lebendigen Straßenkultur miteinander verbunden sind. „Jeder Stadtteil hat seinen ganz eigenen Charakter. Man wird schnell Teil seiner Neighborhood“, sagt Steve, in England aufgewachsen und ein bekennender West-Queen-Westler, während er die Milch für meine „Latte to go“ aufschäumt.
Mich hat die Verbundenheit von der Steve spricht ebenfalls ins Viertel West Queen West verschlagen. Vor gut 16 Jahren habe ich hier ein paar Monate gewohnt und mich, obwohl die Gegend damals noch etwas heruntergekommen und weder von schicken Barber-Shops noch coolen Cafés beseelt war, wohl gefühlt. Nun bin ich zurück und baff, was sich in einem Jahrzehnt auf der Queen Street getan hat.
Torontos Nightlife: Immer was los!
Ein hipper Laden hier, ein trendy Restaurant dort. Zwischendrin Cafés, Boutiquen, Musik-Schuppen, Cocktail-Bars und eine beeindruckende Ansammlung modisch gewagter, international und multikulturell aussehender Leute. Es steppt, gelinde und kanadisch gesagt, ganz schön der Elch.
Toronto ist erwachsen geworden. Die vor Jahren noch schläfrige Großstadt hat sich zur Weltmetropole gemausert und ist mit gut 2,8 Millionen Einwohnern nicht nur auf dem Papier Kanadas größte Stadt, sondern fühlt sich auch so an.
Eine der Nebenwirkungen: Die Stadt wird voller und teurer. Die Gentrifizierung hat die meisten Viertel erreicht. Die Mieten steigen in schwindelnde Höhen, fast so schnell wie die Hochhaustürme, die im Turbo-Tempo aus dem Boden sprießen. Kaum ein Parkplatz scheint vor dem Bauboom sicher zu sein.
Auch ein Titel Torontos: „Hollywood des Nordens“
Kräne, Bagger und gläserne Skyscraper bestimmen das Stadtbild von Downtown. Kein Wunder, dass die Straßen im Financial District gern für Wall-Street-Einstellungen oder Serien wie „Suits“ gefilmt werden. Dem Titel „Hollywood des Nordens“ kann die Stadt mittlerweile auf vielen Ebenen gerecht werden.
Perfekt ist Toronto nicht, dafür befindet sich der Boom zu sehr in der Mache. Da gibt auch mal stilistische Fehlgriffe wie das neue Rathaus, ein sandbraunes Monstrum am Nathan Phillips Square, das dankenswerterweise durch das bunt leuchtende Toronto-Logo optisch in den Hintergrund gerückt wurde. Auch der blinkende Reklamewahn am nahen Dundas Square, eine Möchtegernmischung aus Piccadilly Circle und Times Square, ist eher nervtötend als beeindruckend.
Hippie-Viertel Kensington Market
Trotzdem: Einen Identitätsverlust stelle ich nicht fest. Jede Neighborhood konnte ihren eigenen Charme bewahren. Kensington Market ist nach wie vor das schräge Hippie-Viertel mit knallbunten Häuserreihen und prall gefüllten Vintage-Läden. The Danforth kultiviert Bio-, Vegan- und Yoga-Lifestyle, während sich King Street West abends zur Ausgeh- und Theaterzone verwandelt.
Einheimische wie Immigranten sind besonders stolz darauf, das multikulturelle Aushängeschild zu kultivieren, ein Schmelztiegel der Kulturen und Ethnien zu sein. Am deutlichsten zeigt sich die Vielfalt beim Essen: Man kann sich quasi einmal um die Welt futtern.
Aber auch optisch ist das Stadtbild bunt und international. Sikhs, Muslime oder tibetische Buddhisten tragen ihre Glaubensrichtung stolz durch Kleidung oder Kopfbedeckungen zur Schau und mischen sich problemlos unter Mitbürger afrikanischer, karibischer, südamerikanischer und europäischer Herkunft.
Gourmet-Shoppen: St. Lawrence Market
Im ältesten Teil der Stadt rund um die Front Street im Osten ist der historische St. Lawrence Market unangefochtener Dreh- und Angelpunkt: Hinter den riesigen gusseisernen Toren wartet ein kunterbunter Gemüse-, Obst- und Gourmet-Markt. Seit 1803 verkaufen Ontarios Bauern in dem markanten Backsteingebäude ihre Waren – nirgendwo sonst in der Stadt gibt es ein ähnliches Überangebot an Käse-, Wurst-, Back- und Fischspezialitäten.
Ab an den Strand
Wohin kann ich mit der fetten Beute dem Markttrubel entfliehen? „Geh doch runter an den Strand“, empfiehlt mir Robert Biancolin, Chef der „Carousel Bakery“, während er ein unglaublich gut duftendes Paemeal-Bacon-Sandwich mit einer Schicht hausgemachtem Pfeffersenf überzieht. Mit dem Daumen weist der rundliche Herr im weißen Kittel, der seit drei Jahrzehnten im Markt Lunch-Snacks kreiert, hinter sich.
Sugar Beach ist nur einer der vielen Beach-Spots der Torontonians. Östlich und westlich der Stadt verwandelt sich im Sommer das Seeufer tatsächlich in ein kleines Strandparadies – im Osten genannt „the Beaches“.
Alte Schnapsbrennerei: Distillery District
Hier und auf den vorgelagerten Toronto Islands, einer Inselgruppe, die man in zehn Minuten per Fähre erreicht, erholen sich die Kanadier mit den füßen im warmen Sand vom rauen Winter – über den ab November jeder und ab April keiner mehr spricht. Nicht, dass das Leben in Toronto bei minus 30 Grad stillstehen würde!
Mit Weihnachtsmarkt und „Light festival“ im Distillery District, einem alten Areal mit Schnapsbrennerei, das in liebevoller Renovierungsarbeit zu einem der hübschesten Viertel umgebaut wurde, unzähligen Winter-Installationen, Lagerfeuerfesten und Eislaufbahnen spielt sich viel draußen ab. Tief im Herzen bleibt jeder Kanadier eben doch ein Naturkind, Großstadt-Coolness hin oder her. Gut, dass in Toronto das Grüne stets nah und greifbar ist.
Das kann auch einer der mehr als 1.500 Parks sein, wie Trinity Bellwoods, High Park und Edwards Gardens, oder auch die rauen Felsen der Scarbourough Bluffs, eine Felsformation, die an Irland erinnert, sich nach Urlaub anfühlt und dabei nur 30 Autominuten von der Innenstadt entfernt ist.
Ausflug an die Niagarafälle
Für Tagesausflüge oder Wochenendtrips peilen Einheimische Niagara on the Lake an, eine Weinbauregion unweit der Niagarafälle. Die sind tatsächlich nur knapp zwei Stunden vom Großstadtrummel entfernt und erwarten einen mit dem Getöse ihrer Wassermassen, die aus einer Höhe von 57 Metern in die Tiefe stürzen.
Trendsetter tingeln abends in eng anliegenden T-shirts mit „Home is Toronto“-Slogans durch das momentan angesagteste Viertel „the Junction“. Hier hat Ende 2018 das Museum of Contemporary Art (MOca) eröffnet. In den Graffiti-Hintergassen übertrumpfen sich die kunstvoll verschnörkelten City-Logos an Größe und Aufwand.
Und in Gedanken klopft mindestens jeder Zweite Torontos Lieblingssohn, dem Rapper Drake, dankend auf die Schultern. Seit Drake 2015 über „The 6ix“ sang – eine Anspielung auf die sechs Bezirke – hat Toronto ein neues, cooles Label. „Drake get’s this city“, sagt Sharmaine, dunkel gelockte Barista im „Dark Horse Café“, und zeigt mir stolz ihr „I Heart the 6ix“-Tattoo am Oberarm, der bleibende Beweis ihrer tiefen Liebe zu Toronto.
Fotos: © Destination Toronto
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TORONTO
INFO TORONTO
Anreise
Air Canada fliegt täglich von Frankfurt nach Toronto
Schöner Schlafen
The Drake Hotel
Mehr als ein Boutique Hotel: Das Drake ist eine Mischung aus Kunst-Hub, Nigthlife und kulinarischem Treff. thedrake.ca
Hotel X
Schicker Neuzugang mit Blick auf die Skyline und den Ontariosee. Die Rooftopbar wird abends zum Szenetreff, der lange Pool ist perfekt zum Entspannen. hotelxtoronto.com