Zwar ist Seattle oft von Wolken umgeben, Trübsal bläst aber keiner! Dafür gibt es zu viel zu entdecken, vor allem was Musik und Kunst angeht
Plötzlich ist es ruhig. Während es vor ein paar Minuten von den Unterhaltungen der Museumsbesucher noch wie im Bienenstock gebrummt hat, scheint nun die Luft im Raum stillzustehen. „Da ist er“, flüstert eine Frau neben mir ehrfürchtig und macht einen Schritt nach hinten, dann einen nach vorne und letztendlich einen zur Seite – als wüsste sie nicht genau, wohin mit sich. Vor mir das gleiche Schauspiel: Jeder scheint von der plötzlichen Präsenz Dale Chihulys aus der Bahn geworfen.
Dann teilt sich die Menge und der Meister selbst geht langsam und etwas beschwerlich auf sein großes Werk zu, das mitten im dunklen Raum thront: ein meterhoher und lang gezogener Glasgarten aus breitblütigen Blumen und emporragenden Glashalmen in grell-intensiven Farben, die in dem dunklen Raum ohne Fenster noch intensiver leuchten. „Und nun? Dürfen wir uns jetzt wieder bewegen?“, frage ich – einen Witz wagend – eine von Chihulys Assistentinnen und ernte einen verwirrt-ernsten Blick.
Die Situation wäre weniger bizarr, hätte Chihuly nicht einen Tross an Mitarbeitern und Aufpassern dabei, seine Frau Leslie Jackson beständig dicht neben sich. „Wo ist das Interview?“, fragt der 79-Jährige und meint scheinbar mich. Trotz des etwas Trommelwirbel-Auftritts stelle ich schnell fest: Seattles berühmtester Künstler ist bodenständig nett, ohne Anflug von Star-Allüren, die ich kurz befürchtet habe. Er selbst scheint das Gewusel um seine Person nicht zu bemerken.
Chihuly ist auffallend: groß, wuchtig, mit einem wilden Lockenmopp auf dem Kopf, einer schwarzen Augenklappe und einem leicht hinkenden Gang – beides Folgen eines schweren Autounfalls vor 40 Jahren in London. Seine schwarzen Schuhe sind mit bunten Farbklecksen versehen, der Mann hat seinen ganz eigenen Stil. Und eine Vision.
Seit seiner Jugend bläst er Glasskulpturen, die Dimensionen und Farbverständnis sprengen. Seine oft meterhohen Konstrukte, zart und wuchtig zugleich, stehen in Museen auf der ganzen Welt, zierten das Weiße Haus und die britischen Royal Botanic Gardens.
Seit 2012 hat seine Kunst in der Anlage mit dem Namen Chihuly Garden and Glass in Seattle ein festes Zuhause gefunden, inmitten des Seattle Center, das für die Weltausstellung 1962 gebaut wurde, umgeben von Museen, dem Pacific Science Center sowie der Space Needle, dem Wahrzeichen der Stadt.
Seattle. Kunterbunt in Kunst und Kultur
„Ich bin in Washington State geboren und mit meiner Kunst um die ganze Welt gereist. Seattle fühlt sich aber nach Zuhause an“, sagt Chihuly. Natur, Kultur und Menschen inspirierten ihn, so der Künstler, der Einfluss der indigenen Völker, die die Westküste einst besiedelt hatten, habe tiefen Einfluss auf sein Werk. „Und wahrscheinlich unterbewusst auch das Wetter. Wer so häufig grauen Himmel sieht, der sehnt sich wohl noch stärker nach kräftigen Farben“, überlegt der 79- Jährige und zeigt auf die knalligen Gelb-, Rot- und Orange-Töne über unseren Köpfen.
Und es stimmt: Wo am Morgen noch strahlend blauer Himmel über dem Glasdach schwebte, hängen nun dicht mausgraue Wolken. Das Wetter macht dem Spitznamen der Stadt – rainy city – alle Ehre. Es ist nicht so, dass es schüttet, nein, aber es nieselt oder tröpfelt oder nebelt ständig auf die ein oder andere Art. Klingt deprimierend? Ist es nicht. Die Stadt wartet in jedem Viertel auf mit vielen bunten Nischen, Künstlertreffs, Galerien, Museen, Restaurants und Bars en masse … sowie, klar, Starbucks!
Starbucks. Klar, auch dafür ist Seattle bekannt
Auch wenn wir mittlerweile verächtlich die Nase rümpfen, sobald das grüne Logo an der nächsten Ecke auftaucht: Einmal muss man es einfach tun und eine überteuerte Latte ordern. Als Dank dafür, dass die inzwischen weltweit röstende Kaffeehauskette ein Spotlight auf die gruselig dünne, braune Brühe geworfen hat, die bis weit in die 1980er-Jahre in den USA als einzige Daseinsform von Kaffee verkauft wurde.
„Diesen Mud-Kaffee will heute garantiert keiner mehr trinken“, sagt Linda Derschang und rührt den Milchschaum ihres Moccachino. Den Mut zu haben, etwas Neues zu etablieren, sich einzusetzen und kreativ zu denken, das sei in den Menschen von Seattle tief verwachsen, sinniert die groß gewachsene Blondine.
US-Westküste. Hot-Spot für Ideenmacher
Es komme nicht von ungefähr, dass so viele der heute allgegenwärtigen Konzerne wie Microsoft, Boeing, Amazon oder die Outdoor-Marke RAI aus dieser Ecke kommen. „Verglichen mit anderen US-Staaten ist es hier auch heute noch relativ einfach, einer Idee Leben einzuhauchen. Man wird unterstützt, vor allem von den Nachbarn und anderen Small-Business-Inhabern.“ Linda weiß, wovon sie spricht.
Eigentlich kam sie nur zu Besuch nach Seattle. „Mir sprang vage ein Boutiquekonzept im Kopf herum, das aber in New York nicht zu realisieren war. Dann traf ich hier tolle Leute, fand eine Wohnung und den perfekten Ladenraum – das alles in fünf Tagen, die auch noch durchweg sonnig waren“, erinnert sich Linda. „Ich packte meine Tochter, unseren Kram und zog von Ost nach West.“ Mehr als 30 Jahre und zehn erfolgreiche Shops und Restaurants später ist die „Queen of Capitol Hill“ fester Bestandteil der Bohemian-Szene.
Capitol Hill. Willkommen im Bohemian-Mekka
Das Viertel wächst mit Farm-to-Table-Restaurants, coolen Schallplatten- und Buchläden oder niedlichen Eisshops wie „Molly Moon“ zu einem der trendigsten Stadtteile heran. Im Zentrum der lokalen LGBT-Szene, wo aber auch junge Familien, Fashionistas und eine Parade an bärtigen, tätowierten Barmännern leben, bekommt man den buntesten Hipster-Querschnitt der Stadt geboten. Und viel Grün. Kaum scheint die Sonne, sitzen schon alle draußen unter Bäumen und auf Terrassen.
„Seattles Wetter ist deutlich besser als sein Ruf“, beschwört Linda. „Das Schönste an der Stadt ist, dass die Menschen nett und kreativ sind. Es passiert immer etwas, ständig gibt es Neues zu sehen und auszuprobieren. Wenn man für einen Absacker in eine Bar geht, trifft man garantiert Bekannte“, sagt Linda.
Metropole mit Kleinstadt-Feeling
Dieses Kleinstadtgefühl mitten in der Großstadt macht Seattle auch für Kurzbesucher wie mich spannend und vor allem einfach zu navigieren. Die Metropole ist zwar lang gezogen und mit gut 600.000 Einwohnern – der Großraum schwillt immer stärker an, über drei Millionen Menschen leben hier! – dicht bevölkert. Wer sich aber auf eine Neighborhood konzentriert, bekommt schnell ein Gefühl für das Leben hier.
Queen Anne: Hier tobt das Nightlife
Pioneer Square ist klasse für Kunstfreunde, West Seattle lockt mit seinen Stränden, Queen Anne mit Nightlife und Downtown mit fliegenden Fischen im berühmten Pike Place Market, Georgetown ist „yuppie- schick“, Columbia City multikulturell und Fremont abgedreht bunt. Und dann ist da noch Ballard mit ein bisschen von allem.
„Once upon a time …“, beginnt Mike eine Mini-Geschichtsstunde zum Stadtteil, während er am Ballard Locks die Taue seiner kleinen Jacht einzieht, „ … war Ballard eine eigene Stadt.“ Nach der Gründung 1853 siedelten sich zunächst vor allem skandinavische Immigranten an der Salmon Bay an. Das maritime Leben, so Mike, bestimmte lange die Infrastruktur, auch heute sind die Docks, Fischerbötchen und Oyster-Schuppen noch fester Bestandteil des Viertels.
„Heute tingelt die Hipster-Crowd durch die Straßen, in den vergangenen Jahren ist der Stadtteil regelrecht explodiert“, erzählt der 47-Jährige. Für den wöchentlichen Farmers’ Market wird jeden Sonntag die Ballard Avenue für den Verkehr gesperrt, dafür schlendern junge Familien über das Kopfsteinpflaster. Sobald auch nur ein Sonnenstrahl durch die Wolken bricht, sind alle Outdoor-Cafés knallvoll, so wie heute.
Ballard Avenue: Hipster, galore
„Super Lebensqualität. Ich bin meistens draußen, man kann herrlich wandern, Boot fahren, sogar surfen“, schwärmt Mike. Bis auf die hochschnellenden Immobilienpreise seien die Gentrifizierung und die Veränderungen im Straßenbild relativ geschmeidig abgelaufen.
„Klar, die Preise nerven. Seattle wird generell immer teurer. Aber als ich vor 19 Jahren in diese Gegend gezogen bin, gab es nur ein paar alte Pinten. Dank der Restaurants und Micro-Brauereien, die seitdem aufgemacht haben, bewege ich mich mittlerweile kaum noch aus Ballard weg“, lacht der Grafikdesigner. „Außerdem habe ich einige der Logos und Speisekarten gestaltet, somit profitiere auch ich vom Boom.“
San Francisco, Silicon Valley, Kanada… greifbar nah
Vor allem die Nähe zu San Francisco und zum Silicon Valley macht die Stadt für wohlhabende Entrepreneure spannend, die hügelige Lage zwischen dem Puget Sound und dem Lake Washington ist spektakulär. Zudem ist da noch die greifbare Nähe zu Kanada – die besonders in Zeiten der Trump-Präsidentschaft eine beruhigende Wärme ausstrahlte.
Seattle ist nicht nur lässig und locker, sondern vor allem liberal: Themen wie Klimaschutz, Bildung und Krankenversicherung sind den Einwohnern besonders wichtig. Gleichgeschlechtliche Ehen bekamen 2012 legalen Status, Marihuana wurde im gleichen Jahr für den Eigenbedarf und zur medizinischen Therapie freigegeben.
Washington State. Liberal und forwärtsdenkend
Bei den Präsidentschaftswahlen 2016 gab in Washington State eine große Mehrheit ihre Stimme für die Demokratin Hillary Clinton ab. Dass Trump am Ende gewann, schockierte viele und machte mobil – Seattle war eine der ersten US-Städte, in denen Tausende protestierend auf die Straße gingen. Und 2020 zeigten die Bewohner des Staates Washington ebenso deutlich, dass sie Joe Biden im Weißen Haus wollten.
Juan Alonso nimmt sich den nächsten Farbtopf vor und schüttelt den Kopf. Nein, über Politik will er wirklich nicht reden. 1956 in Havanna auf Kuba geboren und früh ausgewandert, habe er über die Jahre hinweg genug über US-Politik und Spannungen gelernt. 45 Jahre lang konnte der Künstler seine Heimat wegen des US-Embargos nicht besuchen.
Der charmante Kubaner mit weißem Bart und schwarzer Hipster-Brille kreiert seine großflächigen Gemälde seit knapp fünf Jahren im TK Hall Collective. Im Loft-Gebäude direkt am Pioneer Square haben Künstler auf mehreren Etagen lichtdurchflutete Ateliers – jeden zweiten Samstag im Monat öffnen alle ihre Türen für interessierte Besucher.
„Pioneer ist das Künstlerviertel, noch etwas rau, aber spannend“, sagt Juan, dessen metallisch schimmernde Werke aus gut 20 Farbschichten bestehen. Der Bundesstaat Washington greife der Szene mit Zuschüssen und Genehmigungen unter die Arme. „Sonst könnte ich mir dieses Studio nicht leisten. Ich fühle mich als Künstler gefördert, das ist nicht in jeder Stadt selbstverständlich.“
Pike Place Market. Paradies für „Busker“
In der Musik ist es ähnlich. Die meisten Sommerkonzerte in den Parks sind für Besucher kostenlos, für Proberäume und Studiozeit kann man finanzielle Unterstützung beantragen. Und wer etwas mit seiner Livemusik verdienen will, wird ein „Busker“.
Dann darf man alleine, mit seiner Band oder gleich der ganzen singenden Familie an 13 Stationen rund um den Pike Place Market jeweils eine Stunde die Vorbeilaufenden unterhalten. Aufgemalte Noten am Boden zeigen den Künstlern, an welcher Stelle man „busken“ darf. Musikfans müssen nur nach Menschentrauben Ausschau halten.
Jimi Hendrix: der berühmteste Sohn der Stadt
„Und die Busker sind gut! Das sind gestandene Musiker“, Jacob McMurray hebt beide Daumen hoch. Wenn man jemandem in Seattle etwas über Musik glauben darf, dann diesem groß gewachsenen Herrn mit Dreitagebart und Hornbrille, der selbst gerade aus der Bandprobe kommen könnte. „Das nicht, aber ich habe mir die Nacht mit alten Hendrix-Aufnahmen um die Ohren geschlagen.“ Als Senior Curator des EMP, des Experience Music Project, wacht er über eine immense Sammlung aus gut 100.000 Stücken rund um Musik mit Songs, Gitarren, Briefen, Videos, Spielen, Filmen.
„Dabei fing alles recht überschaubar an mit der Privatsammlung von Microsoft-Mitgründer Paul Allen, der ist ein riesiger Hendrix-Fan. Allen suchte nach einer Form, seine Kollektion für die Öffentlichkeit zugänglich zu machen“, erinnert sich Jacob. Er kam als Musikfachmann an Bord, das Gebäudeprojekt wurde von der Stadt abgesegnet – und plötzlich hatte Seattle im Jahr 2000 neben der Space Needle auch ein „Spaceship für Popkultur“.
EMP. Innen wie außen aufregend
Der überdimensionale Bau des Museum of Pop Culture, kurz: MoPOP, aus wellenartigen, schimmernden Metallen und mehrfarbigen runden Komplexen des Star-Architekten Frank O. Gehry soll aus der Vogelperspektive eine Gitarre darstellen – die Einheimischen nennen es aber nur „The Blob“, wörtlich: der Klecks. Ein Klecks, in dessen Bauch man sich stundenlang aufhalten und staunen kann.
Schon allein mit Jimi Hendrix, dem berühmtesten Musiksohn der Stadt, rauscht ein halber Vormittag dahin. Dann sind da aber noch Nirvana und der Grunge, das Science Fiction Museum, Hall of Fame, die Broken Guitar Collection, das Sonic Lab, in dem man selbst Musik kreieren kann, und, und, und … – mir brummt ein bisschen der Kopf bei so vielen Möglichkeiten. Jacob McMurray zeigt auf ein paar bequeme Sessel mit Kopfhörern. „Man kann sich auch einfach nur mit gutem Sound entspannen. Draußen regnet es sowieso mal wieder …“
Lust, weitere US-Metropolen zu erkunden? Wie wär es mit einer Graffiti-Tour durch New York? Spannend ist auch eine Reise durch Kalifornien, SF and beyond!
Seattle
INFO SEATTLE
Anreise
Im Moment kommt man von Deutschland nur mit mindestens einmal Umsteigen nach Seattle. Zum Beispiel mit AirFrance/KLM über Amsterdam oder mit Icelandair über Reykjavik. Die isländische Fluggesellschaft bietet auch attraktive Stopover-Programme von 1-7 Nächten an.
Schön schlafen
W Seattle
Die Eingangshalle in Pink, Blau und Stahl ist ein cooler Design-Kick für die Sinne. Nach einem höher gelegenen Zimmer mit City View fragen. Klasse Lage: In 5 Minuten ist man am Seattle Art Museum, in 12 Minuten am Pike Place Market. W Seattle
The Ace Hotel Seattle
Faire Preise, schickes Design in einem alten Seefahrer-Hotel. Wer low-budget möchte, kann ein Shared mieten und muss sich das Bad teilen. Die Privates sind größer und mit eigener Dusche. acehotel.com
Hotel Max
Schön zentral und trotzdem ruhig gelegen. Die Zimmer sind klein, aber funktional mit orangefarbenen Kissen und Kunst an den Wänden. Am Abend wartet eine Bier-Happy-Hour in der Lobby. hotelmaxseattle.com
Allgemeine Infos
Wer weitere Informationen rund um eine Reise nach Seattle sucht, wird bei Visit Seattle fündig.
Covid 19
Covid 19 hat weiterhin Einschränkungen im internationalen Luft- und Reiseverkehr und bei Einreisen weltweit zur Folge. Achtet bitte deshalb unbedingt auf die aktuellen Reiseinformationen des Auswärtigen Amts unter auswaertiges-amt.de