Matera ist eine der ältesten bewohnten Städte der Welt – mit Häusern, die spektakulär in Felsen gehauen sind. Tief im Bogen des italienischen Stiefels warten hier Geschichte, Kunst, Genuss und viele, viele Treppen
„James Bond war hier. Genau hier und hier und dort“, Tonio deutet auf eine schmale Gasse, die sich beklemmend eng bergauf schlängelt – und durch die Daniel Craig mit Volldampf auf einer schwarzen Triumph Scrambler donnerte. Weil winzige Gassen für 007 ein Klacks sind, raste er danach mit dramatischer Geschwindigkeit auch gleich noch eine beängstigend steile Treppe hinauf, bevor die Verfolgungsjagd in einem epischen Sprung auf die Piazza gipfelte.
Matera: historisch, dramatisch, fotogen
„No Time to Die“ hat auf den steinigen Straßen Materas nicht nur Bremsspuren hinterlassen: Der Blockbuster von 2021 hat dem pittoresken Städtchen tief im Süden Italiens einen Besucherboom beschert. Dabei ist mir schon beim ersten Blick auf die imposant-verschachtelte und in den Berg gemeißelte Baukunst nicht klar, warum Matera überhaupt einen Schubser vom britischen Superagenten gebraucht hat – historisch, dramatisch und fotogen, würde man den Ort längst als bekannte Top-Destination Italiens vermuten.
Wer genau hinschaut, erkennt aber: Matera ist mitten im Begriff, sich selbst zu finden und die Schatten einer schwierigen Vergangenheit abzulegen, die noch greifbar nahe ist. Denn was heute dank aufwändiger Renovierungen charmant und romantisch wirkt, war lange ein Inbegriff der Armut.
Materas Steinhäuser: seit 9.000 Jahren bewohnt
Älter als Rom selbst, wurden die unebenen Pflastersteine von unzähligen Generationen geformt, die hier im Laufe der Jahrhunderte gelebt und gearbeitet haben – viele von ihnen geprägt von Entbehrung und Leid. Archäologische Funde deuten darauf hin, dass Matera bereits vor 9.000 Jahren besiedelt war und damit eine der ältesten ununterbrochen bewohnten Städte der Welt ist.
Ursprünglich eine Ansammlung von Höhlen aus der Altsteinzeit, fügten die Menschen mit der Zeit Fronten hinzu, bauten Kirchen und verbanden die simplen Behausungen durch Treppen, Gassen und unterirdische Tunnel.
Tonio, der mich und mein Gepäck mit seinem knallblauen Dreiradtaxi zu meinem Hotel kutschiert, nennt den eigenwilligen Baustil „spontane Architektur“ – kreiert ohne Plan oder Blaupause, aber mit einzigartigem Charakter. Je mehr Platz gebraucht wurde, desto höher kletterten die Höhlenhäuser wie Legoblöcke die Hänge hinauf und verwuchsen zu einem in sich verschlungenen Labyrinth, dem „Sassi“, auf Deutsch schlichtweg „Stein“.
Materas traurige Geschichte
Tonio verzieht den Mund und bekommt leicht glasige Augen. Er selbst wuchs im modernen Teil Materas auf, seine Großeltern wohnten noch im Sassi. „Als ich klein war, fand ich es magisch, bei ihnen in der Höhle zu sitzen und in den engen Gassen Verstecken zu spielen. Mittlerweile weiß ich, dass sie ein schweres Leben hatten.“
Denn das Leben im Sassi war noch Mitte des 20ten Jahrhunderts alles andere als romantisch. Verarmte Bauernfamilien lebten zusammengepfercht mit ihrem Vieh in dunklen, feuchten Grotten ohne Fenster, versteckt vor der Welt und ignoriert von der Regierung im weit entfernten Rom. Es gab keinen Strom, keine Sanitäranlagen und kein fließendes Wasser. Kinder starben früh an Krankheiten oder an Hunger. Malaria war weit verbreitet.
Von der „Schande Italiens“ zum Weltkulturerbe
Licht auf die katastrophale Lage warf erst in den 1950er-Jahren der Schriftsteller Carlo Levi, der von Benito Mussolinis Regime in die Nähe von Matera verbannt worden war. Entsetzt über das Ausmaß an Armut, schilderte er die Bedingungen in seinem Buch „Christus kam nur bis Eboli“ und bezeichnete die Stadt als „Schande Italiens“.
Durch das plötzliche Scheinwerferlicht von Levis Memoiren wurde die Regierung quasi aus Verlegenheit aktiv, errichtete neue, moderne Häuser oberhalb des Sassi und siedelte die gut 16.000 Bewohner – teils mit Gewalt – um. Zum ersten Mal seit fast 9.000 Jahren war Matera in den 1970er-Jahren eine unbewohnte Geisterstadt.
Künstler entdecken die unbewohnte Geisterstadt
Dann zogen die Kreativen ein. Angeführt von einer lokalen Gruppe namens La Scaletta, machten es sich junge Künstler zur Aufgabe, die kulturellen Traditionen Materas zu bewahren. Mit Erfolg. 1993 erhielt die Stadt den Status eines UNESCO-Weltkulturerbes.
Auch Filmemacher erkannten das monumentale Potenzial der historischen Altstadt: Neben Mel Gibsons „Passion Christi“ stand Matera zudem in Timur Bekmambetovs „Ben-Hur“ für das antike Jerusalem ein. „Wonder Woman“ verbrachte in der imposanten Kulisse ihre Kindheitsjahre, während 007 hier, naja, eben allerhand James-Bondiges tat.
Die Verwandlung vom süditalienischen Sorgenkind zu Europas Kulturhauptstadt 2019 ist beeindruckend. Auch wenn es noch viele verlassene Grotten gibt: Die Menschen kehren seit Jahren in die Sassi zurück und restaurieren die alten Höhlenhäuser. Schicke Boutique-Hotels wie das „Conche Luxury Retreat“ heben das charmante Ambiente der niedrigen Sandsteinzimmer durch indirekte Beleuchtungen, frei stehende Badewannen und elegante Möbel.
Materas Restaurantszene ist vielseitig – und delikat
Rezeptionistin Carla, das quirlige Herz der kleinen Anlage, führt durch die vier individuell umgebauten Höhlenwohnungen und schreibt nebenher die besten Restaurants Materas auf. „Morgan ist zwei Minuten entfernt, die Pasta ist himmlisch. Café Keiv ist innovativ, Osteria MateraMi traditionell. Und egal wo: Du musst Peperoni Cruschi essen“, sagt Carla. „Assolutamente!“
Beim ersten Bissen ist klar, warum die dunkelroten, getrockneten Paprikaschoten ein Highlight Materas sind. Sie schmecken süßlich, leicht rauchig – und einzigartig aromatisch. Seit 1600 wird die spezielle Sorte in der Basilikata-Region angebaut und in Matera kommt sie in unzähligen Versionen auf den Tisch: getrocknet, frittiert, in Öl, auf Brot, in Spaghetti-Soße, auf Salaten, Pizzas – und sogar fein gemahlen in den Cocktail.
Peperoni Cruschi: tiefrote Spezialität Materas
Der Begriff „crusco“ bedeutet „knackig“ bezieht sich auf die besondere Konservierung und natürlich die Konsistenz beim Reinbeißen. Der Trocknungsprozess ist ein Ritual, das seit Jahrhunderten von Generation zu Generation weitergegeben wird. „Die Paprikaschoten werden drei Tage lang auf Tüchern vor Licht geschützt. Dann wird eine Schnur durch die Stängel gezogen und die Girlanden kommen zum Trocknen an die Sonne“, erklärt Carla.
Und dann ist da das Brot – das Pane di Matera. Auf den ersten Blick ein gewaltiges Ungetüm: Die harte, dunkelbraune Kruste bauscht sich auf wie die Berge der Umgebung, darunter versteckt sich aber eine weiche, hellgelbe, aromatische Krume mit großen, unregelmäßigen Löchern.
Noch eine Spezialität: das Pane di Matera
Der an Sauerteig erinnernde intensive Geschmack ist auf den lukanischen Grieß zurückzuführen, den „Senatore Cappelli“. Ebenso wichtig ist der Gärungsprozess. Pane di Matera wird mit natürlicher Hefe aus Trauben und Feigen hergestellt, die in lokalem Quellwasser fermentiert werden.
„Die Sassi spielen eine wichtige Rolle in der Geschichte von Pane di Matera. Früher wurden die Brote in den Steinhütten vorbereitet: Die konstante Temperatur dort war perfekt für die langsame Gärung von Getreide und Brotteig,“ weiß Carla. Bis in die 1950er-Jahre brachten die Familien ihren Teig dann zum Backen in die Gemeinschaftsöfen der Stadt.
Reichtum an Geschmack und Tradition
Diese „Cucina Povera“, die „arme Küche“ Materas aus Peperoni, Brot, Olivenöl und Cavatellini – kleine handgemachte Nudeln mit Baccalà (Stockfisch) und schwarzen Kichererbsen – sind kulinarische Gedichte der Einfachheit. Verfeinert mit frischen Kräutern offenbaren sie einen Reichtum an Geschmack und Tradition, der tief verwurzelt ist in Materas Herzlichkeit.
Essen, Trinken, Kunst wird hier gefeiert und zelebriert: Ein Großteil der meist einheimischen Touristen kommt aus dem Umland. Wem der Trubel von Amalfi, die Enge Neapels und die drückende Hitze Baris zu viel wird, der findet hier in der Mitte des italienischen Stiefels Ruhe und auf einer der vielen Piazzas eine schattige Aperol-Auszeit.
Matera erkundet man am besten ohne Plan
Auch wenn James Bond mit seinem Aston Martin durch die gepflasterten Gassen gerast ist: Für alle normalsterblichen Nicht-007-ener empfiehlt sich schlichtweg ein Spaziergang, der dank unzähliger Treppen schnell zum Workout wird – ganz gut bei so viel Pasta.
Nicht verwirren lassen: Der blaue Punkt bei Google Maps führt dank exzessivem Straßengewirr gerne mal in eine Sackgasse oder direkt vor eine Wand. Verlaufen ist trotzdem schwierig. Kirchen wie die Cattedrale di Maria Santissima della Bruna e Sant’Eustachio, Chiesa di San Pietro Caveoso oder die Chiesa di San Giovanni Battista ragen wie monumentale Wegweiser aus dem Gewirr der Gassen und Höhlen empor.
Kunst ist in Matera überall
Der perfekte Kontrast zum historischen Kalkstein sind die modernen Skulpturen und Museen, die überall in Matera verteilt sind. Die riesigen Werke des italienischen Bildhauers Andrea Roggi beispielsweise begleiten beim Spaziergang durch die Straßen und über die Plätze.
Filigran verflochtene Äste oder die geschwungene, flammenartige Krone einer Zypresse verschmelzen in seiner Kunst mit eleganten Liebespaaren oder auch immensen goldenen Weltkugeln.
Am Abend schlendert dann gefühlt die ganze Stadt zur Piazza Duomo, wo der Sonnenuntergang besonders golden leuchtet und danach über die Via Domenico Ridola, eine lebhafte Straße mit Bars und Restaurants wie dem Il Pettolino und dem coolen Roger the Club, wo leckere Sushi mit präzise gemixten Cocktails eine vorwiegend lokale Szene anlocken. DJ-Musik verwandelt die Bar in späteren Stunden zum lässigen Dance-Spot.
Materas Nightlife: Eis, Cocktails, gute Gespräche
Noch Platz für ein Dessert? Das Eis im zwei Minuten entfernten I Vizi degli Angeli ist so gut wie es die extravagante Glastheke des Gelato-Labors vermuten lässt. Innovative Sorten wie Ananas mit Ingwer, Mandarine und Basilikum treffen hier auf Klassiker wie Pistazie.
Und je später der Abend, desto voller wird AREA 8. Tagsüber eine Agentur, verwandelt sich das Café mit seiner eklektischen Auswahl an Vintage-Möbeln in die hippste Bar Materas. Auf der Terrasse dient ein ständig geparkter 1955er Piaggio Ape-Roller als DJ-Pult, drinnen versteckt sich in einer gewölbten Höhle sogar ein Kino.
Man trinkt hier in bester Gesellschaft: Wes Anderson, Jason Schwartzman, Jaden Smith und Joaquin Phoenix waren bereits im AREA 8. „Und auch Léa Seydoux“, sagt der kunstvoll tätowierte Kellner, als er mir den erfrischenden Bergam-OTTO bringt, einen perfekt sommerlichen Mix aus Chartreuse, hauseigenem AREA 8 GIN und Bergamotte-Likör. Ob die Bond-Darstellerin 007 im Schlepptau hatte, will er wiederum nicht verraten.
Lust auf mehr Italien? Die hübschen Dörfer in Apulien sind ebenso perfekt für einen Roadtrip wie die Hügel und von Zypressen umramten Täler der Toskana. Einen komplett anderen, urbanen Vibe versprüht dann wieder die Designmetropole Mailand.
Matera
Info Matera
Anreise
Matera ist aus Neapel, Rom oder Florenz mit dem Bus erreichbar. Am Flughafen in Neapel oder Bari kann man zudem ein Auto mieten. Wer im Sassi wohnt: Das Auto am besten in der Parkgarage Sant’Isidoro Parking, Via Lanera, abstellen (€ 20 für 24 Stunden). Von hier aus geht man ca 10 Minuten bergab in die Altstadt.
Hotel-Tipp: Conche Luxury Retreat
Vier elegante, gemütliche Zimmer mit freistehender Badewanne, Minibar, Kaffeemaschine und Wifi. Von der eigenen Terrasse aus kann man abends bei einem Gläschen Wein entspannt die Straße und die umliegenden Restaurants beobachten. Das Frühstück ist ein absolutes Highlight: von Wurst- und Käseplatten über frischgebackenen Kuchen bis hin zu Obst ist alles dabei. DZ/F ab 170 Euro Conche Luxury Retreat
Galerien und Museen
Die MUSMA-Galerie der Künstlergruppe La Scaletta ist in einem ehemaligen Familienhaus aus dem 16. Jahrhundert untergebracht – hier lernt man nicht nur viel über zeitgenössische Skulpturen, sondern auch die Geschichte Materas. Via S. Giacomo
Kleiner, aber nicht minder faszinierend ist Casa Ortega, die dem spanischen Künstler Josè Ortega gewidmet ist. Ortega ließ sich für seine farbenfrohen Werke von den alten Pappmache-Techniken der örtlichen Handwerker inspirieren. Via San Nicola del Sole Sasso Barisano