Mailand hat mehr Seiten als jedes noch so dicke Modejournal. Das macht die lombardische Designmetropole zum ewigen Fall für Insider
Helles Morgenlicht sickert durch die Glasflächen der Galleria und Tauben flattern im Sinkflug an den Kuppelfresken vorbei. Draußen rattern orangerote Tramways an haushohen Plakaten vorüber.
Mich aber zieht es hinüber zu den Papageien der Jugendstilbar „Zucca“. Spätestens hier beginnt wieder das große Wundern über diese widersprüchliche Stadt: Der Steh-Espresso in der musealen Bar, in der vor langer Zeit der knallrote Campari erfunden wurde, kostet noch immer weniger, als man an anderen Orten Trinkgeld gibt.
Und kleine Verschnaufpausen sollte man sich gönnen. Denn früher oder später wird das vielfältige Mailand zu einem Marathon – egal wofür du dich interessierst! Also schnell noch einen bitter-süßen Negroni-Cocktail im „Ravizza“, der Arkadenbar neben dem Beretta-Showroom an der angenehm schattigen Via Ulrico Hoepfli, die die Touristen beinahe immer übersehen. Wenn es kühler ist, kommt der verglaste Wintergarten des „Café Trussardi“ hinter der altehrwürdigen Scala infrage, in dem das Epiphyten-Gemüse von der Glasdecke fast bis zum Panton Chair hängt.
Lifestyle-Puzzle
Mailand erinnert mich wieder mal an ein Puzzle auf der Höhe der Zeit. Du siehst einzelne Stücke, zunächst scheinbar zusammenhanglos. Aber irgendwann ergeben sie Sinn, und man entdeckt das größere Bild. Die ganze Stadt funktioniert auf diese Weise. Das Grau von Straßen, das plötzlich schimmert wie das Seidenfutter eines Anzugs von Ermenegildo Zegna. Oder zuvor, in der U-Bahn mit den Lego-Noppensitzen: Die eigenwilligen Griffe und Kunstofffarben der Stationen, die aus dem Schiffsbau entnommen wurden.
Keck aufzeigen – das tut auch dicke, elf Meter hohe Marmormittelfinger namens L.O.V.E., den der Bildhauer Maurizio Cattelan ausgerechnet während der Wirtschaftskrise an der Piazza degli Affari gegenüber der Mailänder Börse aufstellte. Die Banker und Broker, die von der Piazza in das nahe Delikatessen-Schlaraffenland „Peck“ hinübereilen, haben sich längst an das Monument gewöhnt.
Zona Tortona
Geld regiert die Welt – stimmt schon. In Mailand klingen Moneten aber auch nach Mäzenatentum. Befeuert durch die Expo 2015 krempelte sich die Stadt der Bella figura mit einer Reihe von Großprojekten zuletzt wieder einmal um. Beispiel Zona Tortona, ein Kreativviertel des einstigen Industriebezirks Tortona-Solari. Nachdem die ansässigen Industriebetriebe aufgegeben worden waren, richteten Künstler, Fotografen und Designer bereits vor 30 Jahren erste Werkstätten ein.
Die Arbeiterkneipen neben den Bahngleisen haben sich in begehrte Locations für Produktpräsentationen verwandelt. In jedem zweiten schmucklosen Innenhof lauern Showrooms für shabby Chic. Wilder Wein wuchert über die für Mailand so typischen Außentreppen, auf denen Studenten über neuen Projekten brüten. Manche Locations sind besondere Orientierungspunkte.
Da wäre das Fotografenkollektiv Superstudio 13, das die ehemalige Vogue-Chefin Gisella Borioli in einer alten Fahrradfabrik gegründet hatte. Oder die Armani Silos: 15 Jahre nachdem Giorgio Armani sein Hauptquartier nach Tortona-Solari verlegt hatte, eröffnete er in den Hallen einer Schokoladenfabrik ein eigenes Museum. Das gleichfalls neue Kulturmuseum MUDEC legt Acrylglas in weiche Falten und betreibt Forschungen in Sachen Weltkulturen.
Gold ist mehr als eine Farbe
Unweit der Metrostation Lodi T.i.b.b., ließ sich im Rahmen einer achtjährigen Bauzeit die Metamorphose einer Gin-Destillerie ins hochgeistige Ambiente der Fondazione Prada beobachten. Das surreale Ensemble wartet mit einer vergoldeten Fabrikhalle, Miuccia Pradas privater Kunstsammlung und einer Bar auf, die der texanische Kultregisseur Wes Anderson im Stil eines Movie-Sets entworfen hat.
Vom Corso Como zur Zona Porta Nuova
Am Beginn jener Fußgängerrampe, die den Corso Como mit der Piazza Gae Aulenti verbindet, zerschneidet die messerscharfe Fassade der Moschino Dependance den Himmel lieber in blitzblaue Pizzastücke. Die spitze Schnecke des Torre Unicredit hinter dem Bahnhof Porta Garibaldi ist ein Werk des argentinischen Architekten Cesar Pelli – und mit 231 Metern Italiens höchstes Gebäude.
Weil sich Mailand und plumpe Gigantomanie aber nicht gut vertragen, verwandelte sich die umliegende Zona Porta Nuova zugleich in ein spannendes Experimentierfeld für die Zukunft der Stadt. Weiter nördlich wuchert echt schräger Großstadtdschungel: Es sind die mit 900 Bäumen begrünten Fassaden der preisgekrönten Zwillingstürme Bosco Verticale. Der „vertikale Wald“ ändert seine Farbe im Laufe des Jahres. Jetzt, Ende März, dominiert lichtes Grün.
Das Erbe von Mediolanum
Mailand ist nicht so romantisch wie Florenz oder Venedig. Aber die Stadt hat vieles hinter sich hat: die Tage des römischen Mediolanum und das mittelalterliche Erbe. Oder den radikalen Kahlschlag Mussolinis, dem ebenso radikale Häuser der Moderne folgten. Der Reichtum umfasst nun Meisterwerke aus allen Epochen: den weltberühmten Mailänder Dom, an dem 500 Jahre lang gebaut wurde. Aber auch besser versteckte Schätze, wie die zwischen Läden hingeduckte Kirche Santa Maria presso San Satiro mit einem der ältesten Trompel’œil-Werke der Kunstgeschichte.
Studentenviertel Brera
Im Brera-Viertel treffen Studenten und Touristen aufeinander. Während sich die einen im Innenhof der alten Kunstakademie vor Steinsäulen räkeln, schlendern die anderen die Stufen zur Pinacoteca hinauf, besuchen die alte Uni-Bibliothek und den Botanischen Garten Brera.
Wer mit der 1928 eingeführten Ventotto-Straßenbahn unterwegs ist, rollt noch weitere Stationen Richtung Vergangenheit bis zum mächtigen Castello Sforzesco samt seinen Kunstschätzen. Auch einen Kreuzgang wie aus „Name der Rose“ und zwei Uralt-Campanile hält das Zentrum des mittelalterlichen Mailand bereit. Leonardo da Vinci hat ebenfalls seine Spuren hinterlassen: Man kann in der Kirche Santa Maria delle Grazie das berühmte „Letzte Abendmahl“ bewundern.
Aperitivo am Naviglio Grande
Wer das Mailand der Mailänder kennenlernen will, der sollte am Stadtplan nach jenen Ringen suchen, die die Stadt in schönem Sicherheitsabstand zu den Innenbezirken umgeben. Der beliebte Corso Sempione fällt in diese Kategorie. Bekannter sind aber die Kanäle an der Porta Ticinese, allen voran der Naviglio Grande. Es sind Relikte eines Wasserstraßen-Systems, an dem auch da Vinci mittüftelte. Heute kann man an den Bars des Ausgehviertels herrlich entspannen: Aperitivo-Time.
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Info Mailand
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Stylisch Schlafen
Die spanische Kette „Barcélo“ engagierte den Architekten Simone Micheli für den Bau dieses imposanten Hotelturms mit beeindruckender Glasfassade an der Via Giorgio Stephenson 55. Highlights des Hotel Barcélo Milan sind die fluide Kunststoffästhetik sowie die freistehende Duschkapsel.
Restaurant-Tipp
Das fantastische Buffet und der holzbefeuerte Pizzaofen können über die wahre Spezialität nicht hinwegtäuschen: In der vorstädtischen Terza Carbonaia an der Via Degli Scipioni 3 geht es vor allem um Fleischgerichte. Die Gäste sind überwiegend Mailänder, darunter viele Geschäftsleute.
Schicker Shoppen
Fundgrube für angesagtes Design: Corso Como 10
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