Manche von Japans Tempeln nehmen Gäste auf. Shukubo bedeutet: Man schläft auf Futons, isst die fleischlose Tempelküche Shojin Ryori und kommt beim Sutra-Singen zur Ruhe. Ein Selbstversuch im Tempel Senyu-ji am Pilgerweg Shikoku Henro und auf dem Heiligen Berg Koya-san
Der Plan war gut. Stilgerechte Annäherung. Erst nehme ich den härtesten Abschnitt des 88-Tempel-Pilgerwegs in Angriff. Danach sorgt die Shukubo-Übernachtung im altehrwürdigen Tempel Senyu-ji für körperliche Erholung, sensorische Entschleunigung nach Osakas Neongrell und eine ordentliche Dosis Spiritualität. Wie gesagt, das war der Plan. Die Realität sieht anders aus.
Um halb sechs klingelt der Wecker. Nach einer bitterkalten Sturm-Nacht auf einem viel zu dünnen Futon. Bald ist es Zeit für Otsutome, die morgendliche Sutra-Rezitation im Tempel.
Das Bad im Thermalwasser des Tempel-Onsen am Vorabend konnte es nicht verhindern: Alles tut weh, ist eingeschlafen. Der Rücken ist verkrampft, die Hüfte taub. Noch akute Futonitis oder schon Lumbago? Letzte Hilfe: Yoga.
Also Futon beiseite geräumt für Paschimatanasana, Chakravakasana und den Hund, der nach unten schaut. So komme ich wieder auf die Beine und pünktlich zum „Otsutome“ um sechs in den Tempel. Die anderen Gäste kommen auch etwas steif daher. Nennen wir es Shukubo-Syndrom.
Shukubo-Morgen: Otsutome und Räucherstäbchen
Zum Glück muss ich nicht die Beine verknoten – auf einem bequemen, niedrigen Stuhl verfolge ich die Zeremonie. Harmonischer Singsang und bauchfellkitzelnde Dröhnen einer gigantisch großen Klangschale. Der Priester reicht ein rotes Büchlein und ermuntert uns alle, doch aus dem „Mikagura-uta“ mitzusingen.
Davor gilt es noch, etwas Räucherware zu opfern, in die Knie zu gehen, Hände falten (Gassho) und mich zu verbeugen. Ist das schon kulturelle Aneignung? Die Japaner haben damit jedenfalls kein Problem. Dann brumme ich halt ein wenig mit, was soll’s. Schaden kann es nicht.
Ein Gasradiator faucht vor uns. Mir ist erstmals seit 12 Stunden etwas warm. Die Luft ist schwer vom Duft der Räucherstäbchen. Kratzt etwas im Hals. Jetzt nicht in den Gesang husten… Jetzt sticht das Knie. Ist wohl Phantomschmerz: Der Priester, gute siebzig, kniet die ganze halbstündige Zeremonie über auf seinem harten Podest.
Zum Abschluss gibt es eine Moralpredigt, die zum nachhaltigen Lebenswandel aufruft. Eine halbe Stunde später sitze ich, nicht erleuchtet, aber völlig ratlos vor dem Frühstück. Das wird in einer Einweg-Plastikbento-Box serviert. Mit dickem Plastik-Deckel. Dazu schlürfe ich Instant-Miso-Suppe. Aus der Plastiktube. Die Füße in viel zu kleine Plastikpantoffel gepresst.
Schon wieder steigt die Kälte in mir auf. Kein Wunder. Bin ich doch halbbarfuß unterwegs. Die Tempelschlappen taugen nichts für Menschen mit Schuhgröße 46.
Tempel Senyu-ji: Legenden und eine Mumie
Der Shukubo-Tempel Senyu-ji auf der Insel Shikoku geht auf das Jahr 670 zurück. 1947 fiel er bis auf die Statue des Kūkai und die über 1.350 Jahre alte Statue des vielarmigen Kannon-Buddha einem Waldbrand zum Opfer. Hinter dem Namen des Tempels steht eine nette Legende. Der Mönch Abo Senjū, der dem Tempel 40 Jahre lang diente, wurde 718 in den Himmel geweht und zuletzt beim Spielen in den Wolken gesehen.
Grausamer ist die Geschichte von Yuren Shonin. Der wurde im Senyu-ji Ende des 19. Jahrhunderts als Japans letzter „sokushin jobutsu“ verehrt. Dieses „Lebende Erleuchtung“ meint die Selbstmumifizierung des Mönchs in Meditationshaltung. Dieses monatelange Sterben wurde im Shingon-Buddhismus bis zum Verbot vor 120 Jahren als Vorbereitung auf das Nirwana praktiziert.
Pilgerweg Shikoku Henro: 88 Tempel und 1.200 Kilometer
Weltweit bekannt ist die Insel Shikoku für ihren 88-Tempel-Pilgerweg. Dieser im Kreis führende „Shikoku Henro“ steht im Zeichen des buddhistischen Mönchs Kukai, dem Begründer des japanischen Shingon-Buddhismus, der erst nach seinem Ableben Kobo-Daishi genannt wurde. Der Pilgerweg ist 1.200 Kilometer lang, von denen indes nur noch 100 Kilometer ungeteert sind.
Ein Stück des Shikoku Henro wollte ich unbedingt begehen. Die Wahl fiel auf das historisch bedeutende, landschaftlich schöne und topografisch hinterhältige Stück zwischen Yunami und dem Tempel Yokomine-ji, dem zweithöchsten gelegenen Tempel der Insel. Er thront auf 745 Meter Höhe an den Ausläufern des Ishizuchi.
Schnöde mit dem Auto anreisen? Das kommt nicht in Frage. Shikoku Henro und Shukubo gehören zusammen. Die Mühen des Wegs, das schweißgetränkte Waldbad.
Yunami – Yokomine-ji: Die Killeretappe des Pilgerwegs
Mit mehr als 510 Metern Anstieg auf rund 2,2 Kilometern gehört der Tempel Yokomine-ji zu den sogenannten Nansho, den schwerer zu erreichenden Pilgerorten. Die Japaner, die ich auf dem Weg treffe, rühmen diesen Abschnitt als „henro korogashi“ – frei übersetzt – „Pilger-Killer“.
Das lässt den drahtigen alten Mann, der sich kurz mit uns unterhält und dann den Berg hochschießt, als sei der Leibhaftige hinter ihm her, absolut kalt. Keuchend, mit Schweiß in den Augen blicke ich ihm ungläubig hinterher.
Alle 109 Meter zeigen kleine steinerne Choishi-Stelen die Entfernung zum Yokomine-ji an. Oft legen die Pilger dort Münzen ab oder Steine.
Dieses Stück Pilgerweg spielt auch für die Anhänger des Shugendo seit über 1335 Jahren eine wichtige Rolle und markiert an seinem Ende den dritthöchsten Punkt des Shikoku Henro. Vereinfachend wird Shugendo oft als „Bergreligion“ bezeichnet. De facto ist es eine synkretistische Mischung aus Buddhismus, Schamanismus, Shintōismus und Daoismus.
Shugendo-Begründer En no Gyōja lebte Ende des siebten Jahrhunderts und soll durch Askese übernatürliche Fähigkeiten gewonnen haben. Er ernannte den 1.982 Meter hohen, von Schreinen gekrönten Ishizuchi-san, der sich vor mir majestätisch aus den Wolken schält, zum Heiligen Berg. Ein Ziehweg vor dem Tempeltor des Yokomine-ji hatte mich gut 700 Meter hoch durch Zedernwald zum Hoshigamori gebracht, einer Lichtung mit den Statuen von Kūkai und Jizō sowie einem rostiges Torii-Tor, das den Blick auf den Ishizuchi rahmt.
Tempelküche Shojin Ryori: Die Ur-Veganer
Shukubo ist meist eine spartanische Angelegenheit, kostet aber auch nur 35 bis 50 Euro inklusive Abendessen und Frühstück. Man schläft auf Futons in kleinen Zimmern mit Tatami-Matten. Heizlüfter sowie manchmal beheizte Kotatsu-Tische sorgen in der kalten Jahreszeit für etwas Wärme. Es gibt Gemeinschaftsbäder und -toiletten.
Deshalb sollte sich jeder mit dem japanischen Pantoffel-Knigge vertraut machen, sonst tritt er zwischen Abort und Speisesaal in sehr große Fettnäpfchen. Manche der Tempel verfügen über einen eigenen Onsen mit gesundem, entspannenden Thermalwasser.
Die Mahlzeiten sind immer vegetarisch. Oft kommen sie sogar ohne jede tierische Zutat aus – Jahrhunderte, bevor der Veggie-Trend den Westen überrollte. Diese „Shojin Ryori“-Küche ist eine kontemplativ-kulinarische Entdeckungsreise mit Dutzenden von Schälchen und Tellerchen mit kleinen Gerichten voller Raffinesse sind. Man isst bewusster, weil man bei jedem Bissen grübelt, was einem da gerade von den Chopsticks auf den Schoß fällt.
Shojin Ryori: Wichtige Elemente sind Goma- und Koya-Tofu, Fu-Suppe, Somen-Nudeln und Shimeji-Pilze
Beim „Shojin Ryori“ geht es um bunte Vielfalt und alle fünf Geschmacksrichtungen: süß, sauer, salzig, bitter – und umami, was so viel wie vollmundig bedeutet. Die Zutaten spiegeln die Saison wider. So gibt es im schwülheißen japanischen Sommer kühlende Gurke und im Winter wärmendes Wurzelgemüse.
Dass Eier und Milch kaum zum Einsatz kommen, geht zurück auf das buddhistischen Credo, das Töten von Lebewesen aller Art zu vermeiden. „Shojin Ryori“ überträgt dieses Ideal auf die verwendeten Zutaten, von denen zudem fast nichts weggeworfen wird.
Pilgerwege von 24 bis 1.200 Kilometer Länge
Die Kombination von Spiritualität, Kultur und Outdoor macht den Reiz von Japans Pilgerwegen aus. Wer nur einen Tag Zeit hat, begeht den 24 Kilometer langen Weg „Choishi Michi“ vom Jison-Tempel in Kudoyama zum Heiligen Berg Koyasan. Länger, drei bis vier Tage, dauert die Nakahechi-Route des über 1.000 Jahre alten Pilgerwegs Kumano Kodo zwischen uralten Zedern, abgelegenen Bergdörfer, jahrhundertealten Tempeln und wild-schönen Landschaften.
Pilgerwandern lässt sich in Japan wunderbar mit Wellness kombinieren – getreu dem alten Lateiner-Credo „mens sana in corpore sana“. Einer der landesweit über 2.300 Onsen ist immer in der Nähe (sogar Budgethotels wie die der Kette „Dormy Inn“ haben ein Heißwasser-Badehaus mit Sauna). Manche Tempel veranstalten zur geistig-kreativen Bereicherung neben der Teilnahme an der Morgenzeremonie auch Meditationssitzungen oder Kalligrafiekurse an.
Einer der schönsten Tempel auf Shikoku ist die Nummer 51, der leicht zugängliche Ishite-ji (Stein-Hand-Tempel) im Nordosten von Matsuyama. Dieser Tempel steht für das Thema Resilienz, dazu passt auch der Wahlspruch „Nana Korobi Ya Oki“ (Sieben mal hinfallen, acht mal aufstehen).
Koya-san: Das Shukubo-Epizentrum
Die meisten Shukubo-Angebote in Japan gibt es auf dem Koya-san, dem heiligen Berg des Shingon-Buddhismus gut 80 Kilometer Luftlinie südöstlich der Metropole Osaka. Ein einzigartiges Ensemble aus Tempeln und einem verzauberten Friedhof unter uralten Zedern.
Der Haupttempel Kongobu-ji ist Kobo Daishi gewidmet, der sich 816 auf dem Berg niederließ, ein Zentrum des Shingon-Buddhismus aufbaute und später auch den 88-Tempel-Pilgerweg ins Leben gerufen hat.
Von einst über 2.000 Tempeln stehen noch 117, bewohnt von 700 Mönchen. Und von Touristen: Sage und schreibe 50 Tempel bieten die Möglichkeit, in Tatami-Zimmern zu übernachten und bei Morgenandachten dabei zu sein.
Einer der wenigen Shukubo-Tempel mit eigenem Onsen ist der „Rengejo-in“. Und genau deshalb haben wir uns dort eingebucht. Abends gibt es nach dem ausgiebigen Besuch des Onsen feine Tempelküche. Und wieder habe ich keine Ahnung, was genau ich da esse, aber die puren Aromen und überraschenden Texturen sind ein Traum.
Stundenlang spaziere ich am nächsten Tag über den Friedhof Oku-no-in mit seinen 200.000 moosbewachsenen Gräbern. Hier legen Japans größte Denker, Künstler, Generäle, Mönche, Adlige und Unternehmer. Ganz am Ende: das Mausoleum des Kobo Daishi.
Der ausgiebige Besuch des Tempels Kongobu-ji mit dem größten Zen-Steingarten Japans bildet den krönenden Abschluss meiner „spirituellen“ Stippvisite. Aber ganz klar: Das Nirwana muss warten.
Nach der letzten Nacht auf einem Futon freut sich mein Rücken auf ein weiches Hotelbett. Oder sage ich es mit einem Haiku, das dem großen Zen-Poeten Matsuo Basho die Haare zu Berge stehen lassen würde: „Der harte Futon. Ein Pilger sucht darauf Schlaf. Laut ist seine Pein“. ▪️
Mehr über die Insel Shikoku lest ihr hier. Oder Lust auf Storys über Tokio und Kyoto
Info Shukobu in Japan
Anreise
Flüge nach Osaka mit Finnair via Helsinki ab 865 Euro. finnair.com
Shukubo-Tipps
Temple Lodging Daiho-ji
2-1173-2 Sugō, Kumakogen-cho, Kamiukena-gun, Ehime
Tel. +81/892/210044
Übernachtung mit HP ab 40 Euro
Buchung direkt oder mit den nötigen Taxitransfers über shikokutours.com
Temple Lodging Senyū-ji
794-0113 Ehime, Imabari, Bessho Kou, Tamagawa-cho
Tel. +81/898/ 552141
Übernachtung mit HP ab 45 Euro
Buchung direkt oder mit den nötigen Taxitransfers über shikokutours.com
Temple Lodging Fukuchi-in
657 Koyasan, Koya-cho, Wakayama
Tel. +81/736/56202
Übernachtung mit HP 150 bis 400 Euro je nach Termin
Buchung direkt über fukuchiin.com
Temple Lodging Rengejo-in
700 Koyasan, Koya-cho, Wakayama
+81/736/56-2231
Übernachtung mit HP je nach Saison und Zimmerkategorie 200 bis 600 Euro
Buchung direkt über die offizielle Tempel-Website
Weitere Infos und nützliche Adressen
Offizielles Webportal der JNTO mit vielen tollen Tipps und Reiseinfos
Keine Fettnäpfchen: Tempelknigge
- Vor dem Niomon, dem Eingangstor, macht man eine Verbeugung
- Nach dem Betreten des heiligen Bezirks über die linke Seite am Temizuya reinigen
- Dabei wird erst die linke Hand mit Wasser aus der Kelle gesäubert, dann die rechte
- Mit frischem Wasser in der linken Hand spült man sich danach den Mund
- Dabei das Wasser nicht in das Becken zurückspucken
- Kelle nicht an die Lippen führen
- Wurde die linke Hand ein weiteres Mal gereinigt, ist das Ritual, das als o-mairi bekannt ist, abgeschlossen
- O-mairi wird sowohl vor buddhistischen Tempeln als auch shintoistischen Schreinen praktiziert
- Bei der Andacht vor dem Heiligtum erfolgt zuerst eine zweifache kurze Verbeugung, gefolgt von zweimaligem Klatschen in die Hände. Dann verbeugt man sich tief
- Zum Abschluss wird noch einmal in die Hände geklatscht und eine Verbeugung vollzogen