Mit dem stärksten Eisbrecher der Welt auf Nordpol-Kreuzfahrt. Die nuklear angetriebene “50 Let Pobedy” zerteilt zwei Meter dickes Packeis mühelos wie eine russische Babuschka ihre Erdbeertörtchen
Beim erste Mal fühlt es sich noch etwas mulmig an: Die felsigen Inselküsten von Franz-Josef-Land sind gerade im Nebel verschwunden, da hält unser Schiff auf den ersten geschlossenen Eispanzer des Nordpolarmeers zu. Wie das Maul eines riesigen Monsters verschlingt der gigantische Bug-Wulst der „50 Let Pobedy“ die weiße Platte unter sich.
Dann hebt ein Grollen an und der Schiffsrumpf vibriert von jenen irren Kräften, mit denen sich der 40 Zentimeter dicke Stahl durchs Eis rammt. Der Schiffskoloss setzt seine Fahrt davon unbeeindruckt fort – mit zwölf Knoten, was etwa 22 Stundenkilometern entspricht.
Wie blau glänzende Wale schießen die tonnenschweren Schollen dann am Schiffsrumpf hervor, versinken kurze Zeit träge wieder im Wasser und beruhigen sich erst wieder in der breiten Fahrrinne weit hinter dem Schiff, wo eben noch festes Eis war. Ab jetzt fühlt sich diese Nordpol-Kreuzfahrt an wie ein beständiges Erdbeben – von der Eiskante aus die restlichen 650 Kilometer bis zum Nordpol und wieder zurück. Hat man sich erst an das Schütteln gewöhnt, dann taugt der größte Ice Crusher der Welt in Aktion sogar prima als Einschlafhilfe.
Die „50 Let Pobedy“ – übersetzt „50. Jahrestag des Sieges“ – ist wie die anderen Eisbrecher der staatlichen Gesellschaft Atomflot ein Arbeitsschiff mit dem Flair der Zeit, als die Sowjetunion gerade implodierte. 1989 wurde mit dem Bau begonnen, die politischen Wirren verzögerten aber die Fertigstellung. Zur ersten Fahrt brach man deshalb erst 2007 auf. Da war die UdSSR bereits Geschichte, Hammer und Sichel in den Offizierbüros sind aber geblieben, ebenso die alten Wählscheibentelefone.
Und selbst Kapitän Dmitrij Lobusow passt irgendwie dazu, erinnert er doch mit seinem grauen Bart an Sean Connery in dessen Rolle als ernst dreinblickender sowjetischer U-Boot-Kapitän in „Jagd auf Roter Oktober“. Im ewig langen Polarwinter hält der feuerrote Gigant die Schiffsrouten entlang der Nordostpassage frei und schiebt sich dank seiner nuklear erzeugten 71.788 PS dabei noch durch fünf Meter mächtige Eisbarrieren, als wären es Badeenten.
“50 Let Pobedy”: Vom Arbeits- zum Kreuzfahrtschiff
Um auch im Sommer Geld zu verdienen und die Mannschaft in Arbeit zu halten, wird die „Pobedy“ seit einigen Jahren zum Kreuzfahrtschiff umfunktioniert. Dann chartern nacheinander zwei Veranstalter, darunter „Poseidon Expeditions“, den Koloss für 50.000 Euro am Tag und für einen einmaligen Törn, eine Kreuzfahrt zum Nordpol: Kein anderes Passagierschiff hat den Pol als Reiseziel!
Offiziere und große Teile der 138-köpfigen Mannschaft machen für diese Nordpol-Kreuzfahrten ihre Kabinen mit den schönen großen Fenstern frei für zahlungskräftige Passagiere aus aller Welt und ziehen in den riesigen Schiffsbauch.
Auf unserer Reise sind 104 Passagiere aus 21 Nationen an Bord, darunter auch eine illustre Gästegruppe aus Russland: Models, TV-Sternchen, eine Opernsängerin und ein Ex-Judo-Olympionike. Spätestens als die „Pobedy“ die Olympiafackel für Sotchi zum Nordpol brachte, den man in Russland ja für sich reklamiert, sei die Begeisterung groß gewesen. Seitdem kennt das Schiff in Russland jeder.
Törn der Superlative: Eisbär auf Eisberg zum Frühstück
Wer maritime Superlative mag, ist auf der Nordpol-Kreuzfahrt ohnehin richtig. „Kein Mensch befindet sich auf dem Erdball nördlicher, wenn Sie ab jetzt ganz vorn am Bug stehen“, erklärt Expeditionsleiter Jan Bryde beim ersten abendlichen Precap im ewigen Eis, das wie alle Vorträge an Bord auf Deutsch, Englisch und Russisch gehalten wird.
Nördlich von Franz-Josef-Land, jenseits von 82 Grad nördlicher Breite, finden sich rund um den Pol weder Forschungsstationen, noch sind derzeit Forschungsexpeditionen unterwegs. Leben gibt es aber trotzdem. Und welches!
Es ist der dritte Morgen unserer Nordpol-Kreuzfahrt, als dort, wo sich die Eisflächen mit dem Dunst am Horizont zu verbinden scheinen, ein blau schimmernder Eisberg erscheint. Erst winzig klein, entpuppt sich der Klotz als wahrer Riese von der Größe unseres Schiffes. Unwirklich wie eine Burg, mitsamt Turm und einer weiß glänzenden Burgmauer. Darauf erscheint eine überaus hübsche Bewohnerin: „Eisbär auf Eisberg“, informiert Expeditionsleiter Jan Bryde über die Bordlautsprecher.
„Ein Weibchen, etwa vier Jahre alt“, mutmaßt die Meeresbiologin und Lektorin Annette Bombosch über die tapsige Burgprinzessin, die gelangweilt auf ihrer Aussichtsterrasse liegt, sich zwischendurch den Bauch krault, dann kokett die Pfoten übereinanderschlägt und zum Eisbrecher hinüberschaut.
Wissenschaftler an Bord: Dem Klimawandel auf der Spur
Mehr über die Tierwelt und das Eis erfährt man in Vorträgen der Wissenschaftler, die als Lektoren an Bord sind, den Törn aber auch zur Forschung nutzen. So werden von der Brücke aus täglich Verteilung und Größe der blau leuchtenden Schmelztümpel kartiert, die im Sommer die weiten Eisflächen wie Teiche einer Seenlandschaft tupfen und bis zu einen Meter tief ins Eis reichen.
Ein Phänomen, das verstärkt in den vergangenen Jahren aufgetreten ist, so der Geologe Alex Cowan. „Deren Ausdehnung und durchschnittliche Tiefe nimmt eindeutig zu“, zugleich seien die Gewässer bis vor Kurzem nicht einmal in die Klimamodelle zur Erderwärmung einbezogen worden.
„Dabei absorbieren die Wasserflächen viel mehr Sonnenlicht und tragen somit zur Erwärmung bei.“ An den täglichen Messungen und Schätzungen anhand von Vergleichskarten können die Passagiere dabei sein und somit zur Grundlagenforschung beitragen. Ein anderer Schwerpunkt der Vorträge sind die Expeditionen der Arktis-Pioniere.
Verlässlich und nonstop zum Nordpol getrieben von einem Atomreaktor, versorgt von einem Küchenteam auf dem Niveau eines guten Vier-Sterne-Hotels – derart komfortabel unterwegs ist es ein schaurig-surreales Vergnügen, sich hineinzuversetzen in die Zeit, als der Pol als Reiseziel so ambitioniert erschien wie heute allenfalls der Mars.
Als etwa die österreichisch-ungarische Expedition 1874 ein ganzes Jahr hilflos mit ihrem Segelschiff in der Eisdrift zubrachte, nebenbei Franz-Josef-Land entdeckte und wie durch ein Wunder der Eishölle entkam. In „Die Schrecken des Eises und der Finsternis“ erzählt Christoph Ransmayr die Schreckensfahrt der „Admiral Tegetthoff“ minutiös und packend nach. Eine herrliche Lektüre zur Mitternachtssonne. Und wenn das winterliche Presseis im Roman zur Polarnacht die Spanten und Masten brechen lässt, schaut man zur Entspannung aus dem Fenster, wo unser Atomeisbrecher brachial durchs Eis pflügt.
Am Ziel der Nordpol-Kreuzfahrt: 4.200 Meter Wasser unterm Kiel
Bei wolkenlosem Himmel und 0,8 Grad Lufttemperatur erreichen wir am Morgen des fünften Tags den Nordpol. Die Ankunft wird feierlich inszeniert. Auf der Brücke zählt Bryde langsam die letzten Winkelminuten herunter. Bei 90 Grad nördlicher Breite knallen vorn auf dem Bow-Deck dann die Korken der Sektflaschen, wenig später lässt Kapitän Lobusow die beiden sieben Tonnen schweren Anker aufs bis zu zweieinhalb Meter dicke Eis ab.
Wenn dabei nichts knarrt und knirscht, steht auch einer gefahrlosen Nordpol-Begehung für die Passagiere und einem Barbecue im Eis nichts im Weg. Wasser unterm Kiel am Pol übrigens: mehr als 4.200 Meter!
Das hätte man auch vermuten können: Am magischen Ziel sieht es nicht viel anders aus als in der Eiswüste die Tage zuvor. Schön und erschreckend ist aber, dass sich auch hier große, glasklare Schmelztümpel ins Eis gefressen haben. Bis zum Horizont Weite und Leere. Doch allein ist man selbst hier oben nicht immer.
Bryde erinnert sich an eine der vergangenen Ankünfte am Pol, als bei genau 90 Grad Nord ein seltsames Rohr aus dem Eis schaute, das sich als Periskop eines U-Boots auf geheimer Fahrt entpuppte. „Auf Funkkontakt und die Frage, mit wem man es zu tun habe, reagierten sie eine Weile gar nicht“, erinnert sich Bryde, „um dann kurzsilbig zu antworten: ‚You can guess, who we are!‘“
Franz-Josef-Land: Freilichtmuseum der Polarforschung
Weil die Inseln von Franz-Josef-Land sich auf der Hinfahrt hinter dichtem Nebel versteckten, der ein Anlanden unmöglich machte, nehmen wir den Archipel erst auf der Rückfahrt genauer in Augenschein. Ein zerklüftetes Labyrinth aus Inseln, zwischen denen teils gewaltige Eisberge driften, ins Wasser entlassen von Gletscherbrüchen riesiger Eisströme, die über die Inseln walzen.
Auf Champ Island schauen wir uns riesige Steinkugeln an, geformt von einer seltenen Form der Kristallisierung, die wie moderne Plastiken in der steinigen Hinterlassenschaft eines Gletschers liegen. Weil die Wellen an Rudolf Island zu hoch sind für eine Anlandung im Gummiboot, starten wir zu Rundflügen mit dem bordeigenen Hubschrauber über den riesigen Inselgletscher und die einsame, verlassene meteorologische Station.
Jackson Island: Wo Nansen überwinterte
Bei Regen und stürmischem Wind setzen wir abends dann über nach Jackson Island, wo auf einem kargen Grasflecken unter schroffen Felswänden Fridtjof Nansen und sein Expeditionskollege 1895/96 in einem selbst gebauten Hüttchen überwinterten, von dem heute nur noch ein paar Bretter übrig sind. Sogar Felicity Aston findet es ungemütlich an diesem Abend.
Die britische Meteorologin, die während unserer Nordpol-Kreuzfahrt als Lektorin an Bord ist, durchquerte als erste Frau allein die Antarktis und hat vor den Leistungen der frühen Entdecker höchsten Respekt. Im kalten Regen hockt sie am Strand von Jackson Island, passt auf die Passagiere auf, die in ihren Gummistiefeln durchs Moos stolpern, und freut sich aufs Abendessen im warmen Restaurant: „Eine Höllenvorstellung, hier überwintern zu müssen.
Hooker Island: Abschiedsselfie mit Plüsch-Ranger
Und das mit der Ausrüstung und Kleidung von damals, bei Eisbär- und Robbenfleisch.“ Am nächsten Morgen machen wir fest in der Tikhaya-Bucht von Hooker Island und fahren vorher noch ganz dicht an den Rubini Rock heran, dessen unzählige Basaltsäulen in der senkrechten Wand den Felsen zum beliebtesten Brutplatz für Lummen und Möwen im ganzen Archipel machen. Gegenüber überwinterte Georgi Sedow 1913/14 während einer russischen Expedition, die den Nordpol erreichen wollte. Ein Gedenkkreuz erinnert daran. 1929 wurde hier die erste Polarstation eröffnet und nach Sedow benannt.
1959 wurde sie geschlossen und seitdem arbeiten sich die Polarstürme an den Ruinen der Holzhütten ab und erobert sich ein dicker Moosteppich langsam das Terrain zurück. Der Nationalpark der russischen Arktis ist dabei, die historische Station als Freilichtmuseum wieder in ihrem Ursprungszustand zu errichten. Hier kommen wir auch einem Eisbären richtig nah. Viel gibt es in dem kargen Hüttchen der Nationalpark-Ranger nicht, darunter aber ein Eisbärkostüm aus flauschigem Plüsch. Das hat sich ein Ranger übergestreift und posiert geduldig für Abschiedsfotos.
Für mehr Eis, hier entlang: Beim Törn Falklands-Südgeorgien-Antarktis kommen Tierfreunde voll auf ihre Kosten. Ganz erfrischend ist aber auch der sommerliche Abstecher nach Grönland.
Nordpol-Kreuzfahrt
INFO NORDPOL-KREUZFAHRT
Einreise
Russland verlangt ein Visum (60 Euro), das vor der Reise beantragt werden muss. Büros des Visa Handling Service es in München, Berlin, Leipzig, Hamburg, Frankfurt a. M. und Bonn.
Kreuzfahrten in die Arktis
Nordpol-Kreuzfahrten sind nur mit der „50 Let Pobedy“ möglich. Im Sommer chartet „Poseidon Expeditions“ dafür den Eisbrecher dafür. 13 Tage mit Flug und drei Helikopterflügen ab 27.165 Euro pro Person in der Zweibettkabine. Die „Sea Spirit“ steuert Franz-Josef-Land und Spitzbergen an, ohne Flug ab 8.546 Euro. Auch andere Anbieter sind in der Region aktiv wie Hurtigruten oder Oceanwide Expeditions
Covid 19
Covid 19 hat weiterhin Einschränkungen im internationalen Luft- und Reiseverkehr und bei Einreisen weltweit zur Folge. Achtet bitte deshalb unbedingt auf die aktuellen Reiseinformationen des Auswärtigen Amts unter auswaertiges-amt.de