Miami und St. Augustine sind die Antipoden an der Ostküste des Sunshine State. Mal bunt und quirlig, mal historisch und köstlich
Die Kathedrale liegt ein wenig abseits. An der 24th Street, kurz vor der Interstate 95. Hoch aufragende Säulengänge, ein imposanter Monumentalbau, architektonisch ein Meisterwerk. Dazu die aufgesprühten Gemälde und die bunten Bilder, manche abstrakt, manche futuristisch, aber alle faszinierend.
Ein Sakralbau der Kunst, in Wynwood, im Norden von Downtown Miami: „This is our cathedral“, unser Heiligtum, sagt Ryan Wheelbarrow, eine Art Streetart-Hohepriester der Stadt. Wer vor 20 Jahren schon einmal hier war und heute erneut durch die Straßen von Wynwood läuft, der erkennt das Viertel nicht wieder.
Wynwood, das war einst eine finstere Gegend, die unattraktiv war und unangenehm, gefährlich. Heruntergekommene Lagerhallen, verlassene Industrieanlagen, zwielichtige Gestalten. Niedrige Hemmschwelle, hohe Kriminalität. Das Geschäftszentrum von Miami mit seinen aufragenden Bürotürmen ist nur wenige Blocks weit weg, in Wahrheit aber Welten entfernt.
Die besten Graffiti-Künstler der Welt
Auch für Ryan, selbst ein angesagter Graffiti-Künstler und heute täglich im Einsatz als Tour-Guide durch den Distrikt, war Wynwood lange Jahre „No-go-Area“, wie er sagt. Das änderte sich vor gut zehn Jahren, als der New Yorker Immobilienentwickler Tony Goldman das schäbige Areal entdeckte und es in die heute größte Kulturmeile von Florida verwandelte.
Der 2012 verstorbene Goldman erkannte das Potenzial der riesigen, fensterlosen Fassaden. „Für ihn waren das gigantische Leinwände“, sagt Wheelbarrow, „das größte Straßenkunstprojekt, das die Welt je gesehen hat.“
Andere Immobilienspekulanten hätten das alte Zeug weggerissen und durch Neubauten ersetzt. Goldman aber ließ die alten Mauern verschönern und so entstanden die „Wynwood Walls.“ Dutzende der weltweit bedeutendsten Sprayer durften sich auf den Wänden verewigen. Wynwood wurde zum Mekka des Graffiti, ein Wimbledon der Straßenkunst.
Dazu entstanden Dutzende von Galerien, charmante Cafés wie „Panther Coffee“ oder die „Wynwood Kitchen & Bar“ sowie zahlreiche Micro-Breweries. Und plötzlich war das Viertel hip, mehr noch: Wer etwas auf sich hält, engagiert einen renommierten Graffiti-Künstler. Einen Retna. Swoon. Futura.
Oder wie sie alle heißen mit ihren Fantasienamen. Woanders hängen sich die betuchten Sammler einen Picasso ins Wohnzimmer. In Wynwood dagegen lassen sie sich die Außenmauer ansprühen, damit das ganze Haus zum teuren Gemälde wird, als unübersehbares Statussymbol. Obgleich Insider wie Ryan befürchten, dass das Viertel mit einer Inflationierung der Kunst bald doch zu kommerziell werden könnte – Wynwood steht immer noch sinnbildlich für die Entwicklung der gesamten Stadt in den letzten Jahren.
Miami: Viel mehr als Art Decó
Für zahlreiche Urlauber bestand Miami aus Miami Beach, vor allem aus dem Art-déco-Viertel mit seinen grandiosen Bauten aus den 1930ern und 1940ern rund um die Flaniermeile Ocean Drive samt berüchtigtem Nachtleben und mit den meilenlangen Sandstränden zum Baden im Atlantik. Floridas größte Stadt hat enorm viel getan, um wegzukommen von diesem eher eindimensionalen Image.
Man wollte sich als eine Metropole mit vielen Facetten auf mehreren Ebenen präsentieren. Vor allem mit der Art Basel, einer der wichtigsten Messen für zeitgenössische Kunst weltweit, hat sich Miami seit der Premiere im Jahr 2002 einen Namen als beachtenswerte Kulturstadt erarbeitet. Auch in Sachen Ökologie wähnt sich Miami als Vorreiter. Während in anderen Teilen der USA die unbelehrbaren Leugner des Klimawandels noch stark sind, räumt Miami jetzt auf mit der Kampagne „Keep Miami Beach Clean“.
Recycling-Container wurden aufgestellt, versehen mit launigen Hinweisen für die Fitness-Fetischisten am South Beach, diesem einzigartig amüsanten Laufsteg der posierenden Eitelkeiten, dass es den Workout ideal ergänze, sich regelmäßig zu bücken, um den eigenen Abfall aufzuheben und zu entsorgen. Das Motto: „Keep us fit, pick up your shit.“ Schön gesagt. Die Stadt scheint auf einem guten Weg zu sein. Das neue Miami – so bunt, so grün.
St. Augustine: Alt, langsam, lebendig
Rob hatte schon den ganzen Tag gute Laune. Rob, ein Mann mit sonnigem Gemüt und fröhlichem Dauerlächeln. Er steht an der Kasse des Colonial Quarter an der St. George Street, ein kleines Freilichtmuseum mit Einblicken in die lange Historie des Orts.
Rob ist 57, die ersten 56 Jahre seines Lebens verbrachte er in seiner Geburtsstadt Miami, vor einem Jahr zog er nach St. Augustine, eine Stadt mit 13.000 Einwohnern am Intracoastal Waterway. Was ihn wirklich mächtig erheitert, ist die Frage, ob es Gemeinsamkeiten gebe zwischen der hippen Metropole im Süden und dem kleinen Städtchen gut 300 Meilen weiter nördlich. Rob schüttelt sich vor Lachen, dann spricht er von „day and night“. Von einem Unterschied wie Tag und Nacht.
Zwei Tage in St. Augustine reichen, um zu erkennen: Rob hat Recht. Auf der Reise durch Florida ist St. Augustine die ruhigste Stadt, die entspannteste. Das Schlendern durch die kleinen Gassen – nirgendwo sonst im Sunshine State ist es so wohltuend entschleunigt wie hier.
Man denkt noch zurück an das partyaffine Miami und seinen Beach, an den pulsierenden Ocean Drive und den dröhnenden Hip-Hop-Sound aus den Musikbars – und bummelt dabei entlang am „Mi Casa Café“, in dessen Garten wie jeden Nachmittag die lokale Country-Größe Bo Griner melancholisch seine Gitarre zupft und von der verlorenen Liebe singt. Man geht vorbei und bleibt stehen bei den Straßenkünstlern mit ihren Ziehharmonikas, Gitarren und Didgeridoos. St. Augustine, gefühlt die langsamste Stadt Amerikas.
Aber in jedem Fall die älteste. 1565 gingen die Spanier hier an Land, im Lauf der ersten Jahrhunderte hatte der als „San Agustín“ gegründete Ort allerdings einiges durchzustehen. Belagert, geplündert, abgefackelt, ob von Briten, Piraten oder Indianern –die Heuschrecken im alten Ägypten waren nichts dagegen.
Die Bewohner St. Augustines zeigten dabei jedoch enorme Nehmerqualitäten, als kollektive Stehaufmännchen bauten sie die Stadt immer wieder von vorne auf. Nach der Übergabe Floridas an die USA 1821 wurde es friedlicher, mit dem Bau der Florida East Coast Railway Ende des 19. Jahrhunderts stieg St. Augustine zum mondänen Urlaubsparadies des Jet-Set aus den Nordstaaten auf. Und die Gegend wurde zur Côte d’Azur von Florida.
Geballte Ladung Hippie-Flair
Den Reiz hat sich St. Augustine bis heute erhalten. Keine grässlichen Betonbettenburgen, wie sie sich mehr als eine Stunde weiter südlich in Daytona Beach aneinanderreihen, stattdessen liebenswerte, alte Familienhotels und kleine Frühstückspensionen.
Dutzende nette Geschäfte von Künstlern, Handwerkern, Juwelieren, die sich zwischen der Uferstraße Avenida Menendez und der Cordova Street angesiedelt haben – ein bisschen Woodstock-Flair. Hippie-Charme in Florida. Auch Scott Moulton hat es hierher verschlagen. Den eloquenten Engländer aus Leeds kann man viel fragen, nur besser nicht zum Thema Fußball. Der stetige Abstieg von Leeds United, seinem Heimatverein?
Da winkt Scott nur ab – ein Trauerspiel. Lieber spricht er auf seiner dreistündigen Tasting Tour, einem recht kalorienreichen Verköstigungsmarathon durch entzückende Lokale, über die Eigenheiten von St. Augustine. Besonders darüber, wie man sich erfolgreich gegen den Einzug der großen Kommerzfirmen wehrt. Denn das standardisiert-genormte Einheitsbild amerikanischer Main Streets mit Handelsketten und Konzernen sucht man vergebens.
Nur im Ponce de León Hotel, einem 1888 errichteten Prachtbau im Stil der spanischen Renaissance, gibt es verschämt versteckt einen „Starbucks“. Allerdings ohne Hinweis, ohne Schild, ohne Schriftzug. Hier wird der Frappuccino undercover serviert.
Auch gefräßige Immobilienhaie beißen sich mitunter die Zähne aus, wie Scott erzählt: Kürzlich wollte ein Hotelgigant einen Neubau hinstellen, durfte er aber nicht. Das Gebäude war nämlich drei Meter zu hoch. Höher als 35 Fuß, knapp elf Meter, darf nicht gebaut werden. Sie halten hier lieber alles ein wenig flach, in dieser so eigenen Welt, wo sich die unbeugsamen Bewohner einen eigenen Charakter bewahren, um dem übermächtigen Mainstream Widerstand zu leisten. Das gallische Dorf Floridas. Oh, du liebes Augustine.
Mehr kreative City Trips: Street Art in New York, Kunst-Avantgarde in Rotterdam.
Miami & St. Augustine
INFO MIAMI & ST. AUGUSTINE
Streetart in Miami
90 Minuten dauert die Wynwood Mural Tour per Rad. Sie bringt euch vorbei an bunten Fassaden, auf denen sich die weltbesten Graffiti-Künstler verweigt haben. Jeden Sonntag ab 16 Uhr, Teilnahme ist kostenlos, man sollte sein eigenes Fahrrad mitbringen. Andere Tourzeiten können auf Anfrage vereinbart werden.
Schön schlafen in St. Augustine
Das Bayfront Marin House ist ein familiär geführtes Hotel in klassischer Südstaaten-Architektur, mitten im Historic District. Terrasse mit Hollywood-Schaukel. Große Zimmer mit Himmelbett, Kamin und Jacuzzi. Jeden Tag 17 bis 19 Uhr Happy Hour mit gratis Drinks, Wein und Bier, Snacks. DZ/F ab 180 Euro