Hohe Kunst oder Schmiererei? Graffiti polarisieren. In New York bringt ein Spaziergang mit Künstlern Farbe ins Touristenprogramm
Etwas ratlos starren wir auf den schwarzen Metallzaun an einer stinknormalen Straßenecke an New Yorks Lower East Side. Von Kunst keine Spur. Oder doch? Bei genauerem Hinsehen schimmert da was … „Noch etwas weiter nach links, näher an den Zaun und nach rechts schauen“, rückt Gabriel Schoenberg die kleine Gruppe europäischer Touristen zurecht. „Ahhhs“ und „Ohhhs“ werden laut. Steht man richtig, blickt plötzlich ein Gesicht aus den Stäben hervor.
„Das ist doch Steve Jobs, oder?“, fragt John, ein Endzwanziger aus London. Treffer. Schnell werden iPhones und Kameras gezückt, um den verstorbenen Apple-Chef im Graffiti-Stil zu fotografieren. Die 27 besprayten dünnen Plexiglasscheiben, die das Konterfei ergeben, sind das erste Kunstwerk, das Schoenberg bei seiner „Graff-Tour“ durch den unteren Teil von Manhattan zeigt.
New Yorker Kunst: Knallige Botschaften überall
Der erste Stopp macht gleich deutlich: An den meisten Werken würde man ohne einen Guide schlichtweg vorbeilaufen. Wer sich aber genau umsieht und trotz Großstadthetze mal innehält, entdeckt plötzlich an jeder Ecke etwas Spannendes. Grelle Neonfiguren, winzige Logos, lebensgroße Porträts mit feinen Gesichtszügen oder knallblaue Botschaften wie „Dream“ (Träume).
„New York City ist ein Freiluftmuseum“, sagt Schoenberg, der Graff-Tours vor sechs Jahren gründete, nachdem er selbst auf der Suche nach einem Art-Walk war und nichts dergleichen fand. Heute zeigen er und andere Graffiti- Künstler wie Catherine Murphy bei den knapp zweistündigen Spaziergängen, wo Manhattan, Brooklyn, Queens oder die Bronx besonders bunt sind.
Unsere Gruppe wandert die Bond Street in Richtung Osten entlang. Eine lebhafte Diskussion entbrennt. Was ist Graffiti denn nun eigentlich? Hohe Kunst? Schierer Vandalismus? Verschönerung grauer Mauern? Oder schlichtweg Schmiererei?
Coole Szene: Graffiti als Auftragskunst
Schoenberg ist in der Streetart-Szene unter seinem Künstlernamen DWAS2 unterwegs. Er lacht und rückt seine grasgrüne Baseball-Cap zurecht. Die Entscheidung zwischen Kunst und Vandalismus sei dem Betrachter überlassen. Die Mehrzahl der Spraywerke New Yorks seien illegal entstanden. Und: Ins Gefängnis könne man dafür immer noch wandern.
„Die Toleranz von Seiten der Stadt und der Polizei ist aber gestiegen. Und es gibt immer mehr Auftragsarbeiten“, sagt der Tourguide und zeigt auf einen großen schwarz-weißen Vogel an der Wand des kleinen Nachbarschaftsprojektes Albert‘s Garden. Der belgische Künstler ROA, bekannt für seine Tiermotive, war mit gekonnt dünnen Spraylinien am Werk, mit der Genehmigung des Community Gardens. Bezahlt wurde er dafür allerdings nicht.
In New York waren es soziale und politische Botschaften, die in den 1970er-Jahren auf Subway-Zügen auftauchten und ganze Gebäude mit Farbe überzogen. Kunstrebellion gegen die Obrigkeiten, Polarisieren und das Streben nach Ruhm waren Antrieb bekannter Sprayer wie MOSES 147 oder B-ONE. Noch heute gilt: Je schwieriger ein Objekt zu erreichen und zu bemalen ist, desto größer die Anerkennung in der Szene.
NYC-Graffiti: Hauptsache auffallend
Diesen New-York-Look, eng verbunden mit Hip-Hop, zeigt Schoenberg an einer breiten Backsteinwand an der 2nd Avenue. Dort quetschen sich in zwei Reihen die Writings, also Graffiti-Schriftzüge, aneinander. Rambo steht da in bauchigen Großbuchstaben im sogenannten Bubble-Style. „Ein solcher Throw-up ist typisch NYC. Man bläst seine Signatur fett auf. Größer, runder, Hauptsache auffallen“, erklärt der 28-Jährige.
Anja aus München rückt ihre Sonnenbrille zurecht und runzelt die Stirn. Den Vogel von ROA fand sie schöner, aufwendiger, kunstvoller. Das sei meistens so, nickt der Tourguide. In der Szene seien Graffiti- Writer oft bekannter, Betrachter aber fänden Streetart, also großflächige Bilder von Tieren, Personen oder Landschaften, ansprechender. „Die Grenze zwischen den beiden Stilen verschwimmt aber ohnehin.“
Wie beim großflächigen Kunstwerk von Aiko an der East Houston Street. Buchstaben, Schmetterlinge, Blumen, Blätter und Herzchen ranken sich um drei Frauenköpfe, grelles Pink und Lila springt einem von der meterhohen Wand geradezu entgegen.
Lower Manhattan: Hier wird es besonders knallig
Während unsere Gruppe gebannt Einzelheiten seziert, die feinen Linien und unzähligen Details bewundert, hasten New Yorker in schnellem Schritt vorbei, ohne Blick für das Formen- und Farbenmeer. Wir neuen Streetart-Kenner hingegen sehen plötzlich überall Kunst aus der Spraydose, wie hier in Lower Manhatten.
Gebannt staunen wir über bunte Gemälde rund um Subway-Eingänge, an Hydranten, Metalltüren oder hoch oben an Hausmauern wie an der Ecke von Rivington und Bowery. Dort strahlt auf rotem Backstein das Obay-Logo von Shepard Fairey, jenem Künstler, der 2008 mit seinem Change-Wahlplakat für Obama berühmt wurde.
Highline. Früher Hochtrasse, heute Art-Walk
Tage nach der Graff-Tour wundere ich mich, warum mir viele bunte Szenen im Grau der Stadt noch nie aufgefallen waren. Ich entdecke New York neu. Der nächste Spaziergang über die Highline im Meatpacking District wird zum Art-Walk. Dem überdimensionalen Männerporträt des französischen Künstlers JR, das meterhoch hinter Bänken aufragt, hatte ich bisher immer lesend den Rücken zugekehrt.
New York hat so viel zu bieten! Zum Beispiel aufregend-scharfe, schicke Restaurants und coole Hotels wie das Moxy.
New York
INFO NEW YORK
Graffiti-Tour
Die klassische 90-Minuten-Tour durch New York kostet ebenso wie die Chelsea oder Williamsburg New Wave Tour 20 Dollar. Ein Privat-Rundgang kostet 150 Dollar. Weitere Infos auf grafftours.com
Schön schlafen
Unser Tipp und frisch getestet ist das Moxy Chelsea
Restaurants
Graffiti an den Wänden, scharfe Kunst auf dem Teller: Ugly Baby – 407 Smith Street, Brooklyn; Tel. +1/347 689 3075; www.uglybabynyc.com
Ein Hauch Dschungel im coolen Nolita: Wayan – 20 Spring St. Tel. + 1/917-261-4388; wayan-nyc.com
Nicht nur für die Banker der Wall Street ein neues kulinarisches Highlight im unteren Teil der Insel: Crown Shy – 70 Pine Street Tel. + 1/212-517-1932; crownshy.nyc