Ostkanada ist (auch) im Winter ein Traum, Stichwort Backcountry Skiing, Eisangeln, Snowshoeing und Eisklettern. Und dann gibt es ja noch Broomball!
Null Grad? Klingt ja nicht besonders kalt. Doch die Dame an der Rezeption meint natürlich null Grad Fahrenheit, schließlich befinden wir uns in Kanada. Also sprechen wir von minus 18 Grad Celsius. Da auch noch ein gehöriger Chillfaktor hinzukommt, will man den „Equipment-Test“ von Steigeisen und Co. auf dem Vorplatz des weitläufigen „JW Marriott The Rosseau Resort“ schnell rumkriegen. Doch bis jeder alles in seiner Größe beisammen hat, sind die Finger trotz dicker Handschuhe klamm – und alle froh, als der Minibus startet. Und mit ihm die ersehnte Heizung.
Andererseits stellt man sich genau so die kanadische Provinz Ontario im Winter vor: verschneit, frostig, abenteuerlich. Und einsam. Was nicht nur unsere Fahrt bestätigt, sondern auch die Statistiken: Die Bevölkerungsdichte des Muskoka-Distrikts nördlich von Toronto beträgt 14,7 Einwohner pro Quadratkilometer (Bayerns Quotient liegt bei 186). Kein Wunder, die Region ist geprägt von rund 1.600 Seen (an einem liegt das Hotel), unzähligen Flüssen, Mooren und hügeligen Wäldern. Mit 14.000 Einwohnern gilt Muskokas Hauptort Bracebridge da schon als Großstadt. Dort betreibt Peter deMos einen Ausrüstungsladen samt Tourenbüro.
Ontario, eiskalt erwischt
Passender Name „LivOutside“. Und „draußen leben“ ist seit rund 20 Jahren auch das Berufsmotto des Holländers, wenngleich sich die heutige Aktivität nicht unbedingt als typisch holländisch bezeichnen lässt: Es geht zum Eisklettern. Mit Peter als Guide und zwei Männern und drei Frauen aus Übersee. Dort, in den Alpen, startete ich schon öfter Versuche, dreimal ist es wärmebedingt gescheitert. Ich musste offenbar erst über den Teich, um diese Erfahrung zu machen. Gut, Temperatur und ich – wir sind bereit!
Nach 30 Minuten parkt Peter den Bus. Alle raus. Und rein in Klettergeschirr und Schneeschuhe. Seile und Karabiner, Helme, Steigeisen und Eispickel werden gepackt und dann stapfen wir durchs Unterholz. Der jungfräuliche Schnee verrät: Hier war die letzten Tage keine Menschenseele. Das wird sich auch die nächsten Stunden nicht ändern. Peter erklärt: „Ontario ist riesig. Allein in Muskoka gibt es irre viele Spots zum Eisklettern. Da kommt man sich nicht in die Quere.“
Eis mit Stil
Stattdessen kommen wir auf eine Lichtung, die sich als zugefrorener See entpuppt. An dessen Ufer sucht Peter ein hübsches Fleckchen aus, mit zwei Kletterspots: einer acht Meter hohen Eiswand und einer deutlich imposanteren, weil dreimal so hoch und breit. Wir lernen: Eisklettern funktioniert nicht nur an gefrorenen Wasserfällen, sondern auch – wie hier – an Felsen, die so dick überfrieren, dass sie erst im Frühjahr wieder auftauen.
Da wir ein Anfängerkurs sind, geht es ums Ausprobieren. Und ums Wohlfühlen. Dazu gehört auch die Top-Rope-Sicherung. Was das ist? „Ich habe eine Schlaufe an einem Baum oberhalb der Felsen befestigt“, erklärt Peter. „Das Seil in eurem Klettergurt führt dort durch und runter zu mir, wo ich es stets auf Spannung halte. Falls ihr abrutscht, halt ich euch.“ In Kombi mit dem Helm, zwei Eispickeln und den Steigeisen, die mittlerweile statt den Schneeschuhen unter den Stiefeln befestigt sind, vermittelt das ein sicheres Gefühl. Und ist doch nur Plan B.
Rauf, aber zackig!
Plan A sieht vor, aus eigener Kraft die Senkrechte zu bewältigen. Die Theorie erklärt Peter wie folgt: „Der Kletterer zieht sich an den über ihm ins Eis geschlagenen Pickel hoch, stemmt die Steigeisen in das Eis und steht dann idealerweise so sicher, dass die Pickel gelöst werden und etwas weiter oben erneut ihren Platz finden.“ Die Praxis sieht jedoch so aus: Ich ramme den rechten Pickel über Kopf ins Eis. Das knirscht, glitzernde Kristalle splittern in alle Richtungen. Der linke Pickel wird nicht weniger stark reingezimmert. Dann hau ich mit Wucht die Zacken unterm Bergstiefel in die Wand. Rutsch erstmal ab, die Arme halten ja.
Beim zweiten Versuch geht es besser. Ich stehe, verlasse mich aber dennoch auf die Pickel. Schwing diese dann „Basic Instict“-mäßig erneut ins gefrorene Nass. Nach einigen Abrutschern komm ich irgendwann fast oben an. Erschöpft, aber happy. Ich bin bereit für den „großen Felsen“! Dort jedoch rächt sich die armbasierte Technik und nach 15 Minuten in der Wand, in denen ich mich fast ausschließlich an den immer öfter nicht im Eis greifenden Pickeln hochstemme, verlässt mich die Kraft. “Peter, bitte abseilen!”
Technik, die begeistert
Wie es besser geht, zeigt Kattrin. Den Körper immer nah am Fels, findet sie ihre Ideallinie durch die Wand. Im Gegensatz zu mir vertraut sie darauf, dass die Steigeisenzacken sie schon halten. Als sie als Einzige aus der Gruppe oben an der XL-Wand ankommt, grinst sie mit der mittlerweile fast schon angenehm warmen Sonne um die Wette. Und beweist: Statt auf starke Muckis kommt es vor allem auf die Technik an. Mal wieder.
Bei der nächsten Station, der zwei Stunden entfernten „Algonquin Log Cabin“, spielt Technik hingegen keine Rolle. Nicht mal die elektrische. Es gibt nämlich keinen Strom, keine Heizung (nur Kaminfeuer), kein elektrisches Licht (nur Petroleumlampen und Kerzen), kein Handyempfang. Kurz: Im mehr als 7.700 Quadratkilometer großen Algonquin Nationalpark, dem ältesten des Bundesstaats, kann man die Zivilisation für eine Weile hinter sich lassen.
Typisches Kanada-Trio: ein Türke, ein Chilene, eine First Nation
Erst recht im Winter, wenn von den zahlreichen Kanuwanderern des Sommers ebenso jede Spur fehlt wie von den winterschlafenden Schwarzbären und sich nur wenige Gäste in die tiefverschneite Wildnis wagen. So wie unsere Gruppe. Doch wir sind ja zum Glück nicht allein, sondern genießen die Gesellschaft von Mauricio, Baris und Sage. Ein besonderes Trio, wie sich herausstellt.
Der 42-jährige Mauricio Luci stammt aus Patagonien und kam vor einigen Jahren nach Ontario – um zu bleiben. Ebenso wie der 15 Jahre jüngere Baris Hekimgil, der seiner türkischen Heimat den Rücken kehrte. Sage hingegen, die Jüngste im Bunde, gehört zur indigenen Bevölkerung Kanadas, den First Nations. Geboren und aufgewachsen ist sie in einem Mohawk-Reservat nahe Gravenhurst, südlich von Bracebridge. Allein das sorgt für spannende Unterhaltungen, das „Smudging“, eine traditionelle Rauchzeremonie, mit der Sage uns die Ehre erweist, erst recht …
Was die drei eint: die Leidenschaft für ihren Job als Guides und „Kümmerer“. „Die größte Genugtuung für uns ist, wenn die Besucher erkennen“, meint Mauricio. „dass man sich im kanadischen Winter nicht drinnen verkriechen muss, sondern viel draußen unternehmen kann.“
So steht für uns Ontario-Erkunder tagsdrauf Backcountry Skiing auf dem Programm. Der Unterschied zum Langlauf? Statt in gespurten Loipen müssen wir uns diese mit den ausgeliehenen Latten selbst legen. Mauricio und Baris ziehen vorne weg, erst über den supernahen zugefrorenen Surprise Lake und dann zwischen verschneiten Bäumen und Büschen hindurch quer durchs Gelände, mal etwas rauf, mal etwas runter, durchaus auch mal über höhere Hügel.
Der die Wolfsfährte liest
Einmal geht es so steil bergauf, dass wir die Ski abschnallen und uns zu Fuß durch den Tiefschnee kämpfen. Belohnt werden wir mit 1a-Ausblicken auf den verschneiten Wald. Und wie bestellt weist uns Baris, der sich als Top-Fährtenleser entpuppt, auf Pfotenabdrücke im Tiefschnee hin. „Hier sind Wölfe langgekommen“, meint er und erklärt: „Auch wenn nur eine Spur zu sehen ist, sind es vermutlich mehrere Tiere gewesen. Schließich laufen sie gerne hintereinander und treten dabei exakt in die Spur des Vorgängers.“
Bei einer späteren und ausgiebigen Schneeschuhtour kommen noch weitere tierische Eindrücke dazu, leben im Nationalpark doch zahlreiche Elche, Füchse, Biber, Stachelschweine, Waschbären und viele mehr. Von Moorhühnern, den farbenfrohen Blauhähern und rund 250 anderen Vogelarten mal ganz abgesehen. Bei der jetzigen Ski-„Abfahrt“ bleibt aber keine Zeit, auf die Fauna zu achten. Es gilt ausschließlich darum, bei zunehmender Geschwindigkeit in der Vorgängerspur zu bleiben, im wahrsten Sinne.
Ein Unterfangen, das nicht allen gelingt, Stichwort Schneelandung. Ein großer Spaß, auch weil man im Anschluss die nassen Klamotten ja vor dem großen Kamin und sich selbst in der benachbarten Holzsauna, die Sage schon angefeuert hat, trocknen und aufwärmen kann.
Typisch Ontario: Winter-Action ganz relaxt
Mit frischem Elan geht es dann raus zum Eisangeln auf den See, wo uns Mauricio erwartet, samt Angeln, gebohrten Eislöchern und einem von ihm gebauten Unterschlupf aus Schnee, ein „Quinzhee“. Dass trotz leckerer Köder kein Fisch anbeißen will und wir nach einer Weile erfolglos die Angeln aus den kleinen Löchern ziehen – geschenkt.
Mauricio erklärt, dass „Angeln ohnehin eher eine Ausrede ist, um sich mit Freunden auf ein Bierchen zu treffen.“ Ah, Stichwort, es werden entsprechende Getränke gereicht. Ein Feuer, das Mauricio auf dem See entzündet hat (dank kleiner Eisempore und – Trick! – isolierender Asche als Unterlage besteht keinerlei Schmelzgefahr) sorgt für ausgleichende Wärme.
Ein hübscher Auftakt für das im Anschluss wartende köstliche Abendessen, das wir bei Kerzenschein in der Hütte zu uns nehmen. Wir kommen, Weingläser erhebend, zu dem Schluss: Fatbiken, Eisklettern, Schneeschuhwandern, Backcountry Skiing, Eisangeln – mehr Winter-Outdoor geht wirklich nicht in so kurzer Zeit. Denken wir. Denn gerade als es sich alle vorm Kamin gemütlich machen wollen, fordert uns Mauricio trotz abendlicher Stunde noch zu einer Runde Broomball auf.
Kehraus auf dem nächtlichen See
Fragende Gesichter. Bitte, was? „Dabei handelt es sich um einen Mix aus Eishockey und Fußball“, erklärt er. Und das Broom kommt von den buschigen, besenartigen Birkenborsten, mit denen der Ball alias Puck über das See-Eis ins gegnerische Tor getrieben wird. Wobei es See-Eis in unserem Fall nicht so trifft. Eher wühlen wir uns durch Schneehügel, die sich da auf dem Spielfeld häufen und das Gerenne zu einer anstrengenden, aber unfassbar lustigen Aktion machen. Auch toll: Da der Vollmond auf den Surprise Lake scheint, brauchen wir nicht einmal Stirnlampen. Noch so eine schöne Überraschung!
Lust auf mehr Abenteuer in Kanada?
Dann ab in den temperierten Regenwald von British Columbia oder ins subpolare Nunavik!
Lust auf mehr Winter-Action?
Wie wär’s mit Finnisch Lappland oder einer Nordsee-Hallig?
Fotos: © Christian Haas, Destination Ontario, Voyageur Quest
Ontario im Winter
INFO ONTARIO
An- und Einreise
Am meisten Verbindungen von Deutschland nach Toronto unterhält Air Canada, etwa von Frankfurt aus für rund 600 Euro(hin und zurück – aircanada.com) Der Reisepass muss noch sechs Monate gültig sein. Ein Visum braucht es bei einem touristischen Aufenthalt bis sechs Monate nicht, lediglich eine Electronic Travel Authorization (eTA). Diese kostet sieben Kanadische Dollar.
Eisklettern
Von Thunder Bay und Red Rock bis zu Marathon und der Orient Bay am Lake Nipigon – Ontario ist eines der weltbesten Ziele für Eiskletterer. Bei „LivOutside“ kostet ein 6-stündiger Anfängerkurs 115 Euro pro Person und beinhaltet Anfahrt, Guide und Equipment, livoutside.ca
Winterabenteuer
Das Blockhaus „Algonquin Log Cabin“ verfügt über sechs Doppelzimmer, die sich zwei Bäder (mit Waschbecken und Toilette) teilen. Außerdem gibt es in einem separaten Gebäude eine Sauna mit Dusche.
3 Tage/2 Nächte inkl. Verpflegung sowie geführte Touren: 450 Euro (plus Steuern) pro Person, voyageurquest.com
Covid-19
Covid 19 hat weiterhin Einschränkungen im internationalen Luft- und Reiseverkehr und bei Einreisen weltweit zur Folge. Achtet bitte deshalb unbedingt auf die aktuellen Reiseinformationen des Auswärtigen Amts unter auswaertiges-amt.de
Infos
Weitere Infos über Ontario: destinationontario.com, weitere Infos über Kanada: canada.ca