Québecs Norden lockt mit rauer Wildnis, die man auf einer mehrtägigen Trekkingtour durch den Kuururjuaq National Park in der Region Nunavik kennen und schätzen lernt.
Bewegt sich da etwas? Ist das zwischen den Felsen unter mir vielleicht ein Schwarzbär? Schon wieder eine Bewegung, ich taste nach dem Bärenspray in der Rucksack-Außentasche, aber dann fällt mir ein, dass ich es Sarah gegeben habe, als sie alleine am Bach zurückblieb. Aber ich habe ja noch eine Trillerpfeife!Bei deren durchdringendem Ton wird sich der Bär doch wohl trollen?!
Wenige Hundert Meter unter dem Gipfel des Mont D’Iberville schießen mir jetzt Schnipsel aus dem Film „The Revenant“ durch den Kopf, nämlich die von Leonardo di Caprios Ringkampf mit einem ausgewachsenen Bären. Blutiges Kopfkino.
Bereits am ersten Reisetag lief uns ein Schwarzbär über den Weg. Es war ein ausgewachsenes Männchen, das am steinigen Strand von Kangiqsualujjuaq auf der Suche nach Fressbarem herumstreunte, während unsere Wandergruppe – bestehend aus Christine, Sarah, Sylvie, Montgelas und mir – vollgepackt mit Verpflegung aus dem örtlichen Supermarkt, zurück ins Hotel ging. Der Bär gab schnell Fersengeld, als glücklicherweise zwei junge Frauen mit wehenden Haaren und verspiegelten Sonnenbrillen auf einem Quad an uns vorbeibrausten. Wir waren ziemlich erleichtert!
Nunavik. Fünf Bananen für 17 Euro
Das Leben in den kleinen Inuit-Siedlungen im Norden von Inuvik und am Rande der bewohnten Welt ist für diejenigen, die weder jagen noch fischen können, nicht leicht. Das betrifft etwa die Hälfte der Familien, die diese Kulturtechniken in den wenigen Jahrzehnten ihrer Sesshaftigkeit und der Residential Schools verlernt haben.
Es gibt zwar eine Gemeindekühltruhe, in die Jäger immer mal wieder Fleisch und Fisch für alle legen, trotzdem kaufen viele Familien Lebensmittel nur im Supermarkt. Allerdings sind die Produkte sehr teuer, da ein Großteil mit dem Flugzeug aus Québecs Süden hertransportiert werden muss: Fünf Bananen kosten 25 kanadische Dollar, knapp 17 Euro. Für eine Packung Nudeln sind acht kanadische Dollar fällig, ungefähr 5,30 Euro. Alkohol wird im Ort grundsätzlich nicht verkauft, den muss sich jeder selbst per Luftfracht bestellen – zu 125 Dollar für 25 Dosen Bier.
Kulturelle Entwurzelung die nachwirkt
Es fällt auf, dass besonders in den Familien, in denen die Elterngeneration ab den 1950er-Jahren Residential Schools besuchen mussten, zwangsweise die Inuit-Sprache Inuktitut verloren ging, Jagen und Fischen verlernt wurde und es Drogen- und Alkoholprobleme gab. Die kulturelle Entwurzelung trifft so auch die nächste Generation von Nunavik, obwohl heutzutage in der Schule wieder Inuktitut als erste Sprache gelehrt und gesprochen wird.
All das und einiges mehr erzählt Jari, einer der Inuit, die für den Kuururjuaq National Park als Guide arbeiten und der uns nach der Ankunft am Flugfeld eine Dorftour gibt. Etwa 700 Menschen leben am Rand des Parks, der sich im Osten der politisch weitgehend autonomen Region Nunavik auf der Labrador-Halbinsel befindet. Ein ziemlich isoliertes Areal, größer als Deutschland, Österreich und die Schweiz zusammen, aber lediglich von etwa 11.000 Menschen bewohnt, 90 Prozent davon sind Inuit.
Winter von September bis Mai
Nunavik, das ist weites Land, borealer Wald und Tundra, ungebändigte Flüsse, unzählige Seen, Meteoritenkrater und drei Nationalparks, die gegründet wurden, um wirtschaftliche Aktivitäten zu verhindern und den Inuit ihren Lebens- und Kulturraum zu erhalten, den sie seit mindestens 4.000 Jahren besiedeln.
Kangiqsualujjuaq, erst 1962 gegründet, besteht aus einigen Reihen bunt gestrichener Häuser auf Stelzen, einem Gemeindezentrum mit Krankenstation, der Sporthalle, dem Supermarkt, dem Friedhof mit seinen von Plastikblumen bedeckten Gräbern und dem Nationalparkgebäude. Als ich später am Abend durch das Dorf gehe, wirft die Mitternachtssonne lange Schatten und lässt Hausfassaden und Stromleitungen goldgelb gleißen. Ein kühler Wind treibt kleine Staubwirbel durch dieStraßen, an den umliegenden Hängen liegen noch Schneereste des vergangenen Winters.
Kangiqsualujjuaq. Freizeit auf der Dorfstraße
Immer wieder knattern Quads vorüber, manche davon mit mehreren Personen besetzt. Es ist Freitagabend, man besucht sich, grillt gemeinsam und genießt das gute Wetter. Schließlich hat sich der letzte Winter erst im Mai richtig verabschiedet … und der nächste Schnee wird bereits in zwei Monaten fallen, im September.
Zwischen den Häusern liegen angekettete Schlittenhunde, die mir mit den Augen folgen, als ich vorbeiwandere. Nach wenigen Minuten erreiche ich das Ortsende. „Verlasst nicht das Dorf“, hat uns Jari eingeschärft, Eisbären seien hier immer eine Gefahr. Und so drehe ich am letzten Haus um, atme die frische Luft und beobachte einen Schwarm vorüberziehender Kanadagänse , bevor ich schlafen gehe.
Am folgenden Tag besteigt unsere Wandergruppe zusammen mit den Guides Olivier und Randall eine kleine Propellermaschine, die uns 160 Kilometer den Koroc River flussaufwärts bringt. Die Baumgrenze von Nunavik liegt lange hinter uns, als wir auf einer Schotterpiste inmitten der Torngat Mountains landen. Schnell laden wir Gepäck und Verpflegung für eine Woche aus, dann hebt das Flugzeug ab und verschwindet hinter den Bergen. Es ist still. Sehr still. Und es gibt Mücken, sehr viele Mücken. Zeit also, die Mückenschutzjacke überzustreifen und den Rucksack zu schultern. Bei Randall kommt noch ein Gewehr für alle Fälle dazu.
Québecs Norden: Tücken mit Mücken
Zunächst durchwaten wir den Koroc River, dessen kaltes Wasser uns hüfthoch umspült, dann folgen wir dem Vallée des Cirques nach Norden. Das Wetter ist perfekt, die Julisonne wärmt die Tundra, wir schwitzen und ziehen ganze Mückenschwärme hinter uns her. Auf den nächsten zwölf Kilometern bahnen wir uns den Weg durch stacheliges Weidengestrüpp, queren Bäche, in denen wir unsere Wasserflaschen auffüllen, und laufen über Blaubeerfelder. Wir verschnaufen im Schatten großer Felsen und tasten uns über Schneefelder. Riesige Geröllflächen wechseln mit moosigen Arealen. Und wenn wir auf die Blüten des Labradortees treten, umfängt uns ein erfrischender, minziger Duft.
Nach einigen Stunden leuchten weiße Punkte in der Ferne des Tals, die mit jedem Schritt etwas größer werden, bis wir sie als die drei Kunstoffkugeln des Nunavik Iberville Base Camp erkennen, das von der Nationalparkverwaltung unterhalten wird. Wir durchwaten die letzten Bäche und lassen schließlich nach sieben Stunden Wanderung die Rucksäcke von den Schultern plumpsen. Nicht viel später stärken wir uns mit Kaffee und Keksen, bevor einige die Zelte innerhalb des Bärenschutzzauns aufbauen und andere ihre Schlafsäcke auf den Pritschen im Schlaf-Dome ausrollen. Während sich Olivier und Randall um das Abendessen kümmern, umwickle ich meinen Wanderschuh notdürftig mit Klebeband, da sich beim Marschieren durch das Weidengestrüpp die Sohle vom Oberleder gelöst hat.
Proviantproduktion wie am Fließband
Die nächsten fünf Tage werden wir die umliegenden Täler erkunden, Gipfel erklimmen, am blau schimmernden Circus Lake zu Mittag essen und jeden Abend kurz nach Sonnenuntergang erschöpft, aber glücklich einschlafen. Der Griff zur Wasserflasche und das Trinken sowie das dafür notwendige Öffnen und Schließen der Kapuze an der Mückenschutzjacke wer den perfektioniert, die gemeinsame Brot- und Wrap-Produktion wird täglich effizienter.
In den Zelten und Domes werden trocknende Wanderklamotten ein Tropfsteinhöhlenflair verbreiten und es ist deshalb sicher von Vorteil, alleine im Zelt zu hausen. Wir werden Unmengen essen und gemeinsam abspülen. Nach dem Abendessen wer den wir bei lustigen Kartenspielen vor Lachen weinen und uns gegenseitig beim Verarzten der blasengeplagten Füße helfen. Randall wird sein Gewehr schultern und im Dämmerlicht von Nunavik nach Schwarzbären suchen. Und jeder wird eine eigene Methode finden, sich in den erfrischenden Bächen rund um das Camp zu baden, ohne zu sehr von den blutdurstigen Mücken zerstochen zu werden.
Mont D’Iberville. Vier Milliarden altes Gestein
Aber vor allem werden wir den Mont D’Iberville besteigen! Er ist, je nach Lesart, 1.652 oder 1.646 Meter hoch, liegt in den Torngat Mountains auf der Provinzgrenze zwischen Québec und Labrador und ist der höchste kanadische Berg östlich der Rocky Mountains. In Labrador jahrelang namenlos, trägt er dort seit 1981 den Namen Mount Caubvick. Vom Camp bis zu seinem Gipfel müssen wir etwa 1.000 Höhenmeter überwinden. Das hört sich nach wenig an, ist in dieser zerklüfteten, weglosen Berglandschaft aber durchaus anspruchsvoll.
Als der Tau noch auf den Moosen liegt und Dunkelheit die Landschaft verhüllt, brechen wir eines Morgens auf und wandern am Rand eines Gletschertals nach Norden. Bald wird das Gelände steiler und wir steigen über ein Geröllfeld in den Berg ein. Wir suchen uns einen Weg zwischen losem Gestein und hausgroßen Felsbrocken, überqueren angeseilt weite Schneefelder und tasten uns dann weiter nach oben.
Im Lauf des Vormittags wird es immer wärmer, die Natur saugt die Sonnenstrahlen auf, es ist windstill und die Mücken scheinen schwindelfrei zu sein. Der Berg ist vegetationslos, kahl und abweisend. Stunden steigen und klettern wir auf seiner fast senkrechten Flanke durch ein Felslabyrinth, bis wir schließlich über einen Grat den Gipfel erreichen.
Unberührte Wildnis bis hinter den Horizont
Im Umkreis von Hunderten Quadratkilometern sind wir die einzigen Menschen, in jede Richtung breitet sich nichts als Wildnis von Nunavik aus. Im Norden schimmert das Blau der Labradorsee am Horizont, davor erstreckt sich eine Landschaft wie gemalt: im Westen ein viele Quadratkilometer großes Mosaik aus weißem Schnee, gelbem und rotem Gestein, dazwischen das Türkis von Gletscherseen. In den Tälern wächst nur entlang der Flüsse das zarte Grüngelb der Tundra-Vegetation.
Dazu überall Bergketten, Kargletscher, harsche Grate und massive Pyramiden aus Stein. Geologen schätzen das Alter der Torngat Mountains auf 3,6 bis 3,9 Milliarden Jahre. Das Gestein dieser Berge gehört damit zu den ältesten der Erde. Vor etwa vier Milliarden Jahren begann sich unser Planet langsam abzukühlen, erst danach bildete sich Wasser, in dem dann vor etwa 3,8 Milliarden Jahren die ersten, einfachsten Bakterien entstanden. Man wandert in dieser Urlandschaft, auf diesen unfassbar alten Bergen also buchstäblich durch die frühe Erdgeschichte und begreift das doch nicht.
Torngat Mountains. Berge die nachwirken
Nur allmählich sickert das Erlebte später tiefer in mein Bewusstsein. Nach unserer Rückkehr und dem Abendessen spaziere ich langsam zu einem aus Steinen gebauten Männchen. Diese Inukshuks sind Symbole der Inuit-Kultur und werden auch in Nunavik seit Jahrhunderten als Wegmarkierungen und als Zeichen für gute Jagd- und Weidegründe genutzt. An seinem Fuß setze ich mich und blicke über die Landschaft.
Wie jeden Abend weht ein kühler Wind talaufwärts, die Vögel schlafen bereits und nur das Rauschen des Bachs schwebt in der Luft. Nach einiger Zeit schiebt sich der Mond über die Berge und die letzten Sonnenstrahlen bepinseln die Wölkchen mit Farbe. Ruhe breitet sich in mir aus. Dann überlege ich, dass das, was ich heute am Berg für einen Bären gehalten habe, vielleicht etwas ganz anderes war. Denn das Uralte, das Unerklärliche, Unvorstellbare dieser einzigartigen Region haben die Inuit in ein Wort gekleidet, das sich irgendwann zu „Torngats“ veränderte: Torngait – die Gegend der Geister.
Wer sich für weitere Trekkingtipps interessiert, sollte sich hier umsehen. Wem nach mehr Kanada ist, kann nach Saskatchewan oder in die Northwest Territories reisen.
Nunavik
INFO NUNAVIK
ANREISE
Flüge nach Montreal mit Air Canada, Air France oder Lufthansa . Weiterreise nach Nunavik mit Air Inuit.
Reisezeit
Die Sommer im Norden von Québec sind kurz. Ab Juni blüht die Tundra, im September beginnt bereits der Indian Summer. Im Winter bietet sich der März an, dann sind die Tage wieder länger und es liegt noch ausreichend Schnee für Skidoo- und Hundeschlittentouren.
Informationen
Wer mehr Informationen über den Norden von Québec sucht, wird bei Nunavik Tourism fündig.
Trekking
Die beschriebene Tour wird als Komplettpaket sowohl von Nunavik Parks angeboten als auch über Voyages FCNQ, das offizielle Reisebüro von Nunavik (Tel. + 1/514/ 4 5722 36 oder informationsvoyages@fcnq.ca). Das Paket kostet ab 3.000 Euro inklusive Hin- und Rückflug von Montreal, Transfers, Parkgebühren, Unterkunft, Mahlzeiten, geführten Wanderungen sowie Campingausrüstung. Dieses Paket kann durch eine Besteigung des Mont D’Iberville ergänzt werden. nunavikparks.ca