Verborgen in den kolumbianischen Bergen liegt die Ciudad Perdida. Wer die größte präkolumbianische Stätte sehen will, hat ein abenteuerliches Trekking vor sich
Der Skorpion richtet sich drohend auf, sein Stachel zeigt in meine Richtung. Ich stehe reglos, den Stiefel, aus dem der Gliederfüßer soeben gefallen ist, in der Hand. Einen Augenblick später verschwindet das schwarzglänzende Tier unter dem Stockbett, in dem ich die letzte Nacht verbracht habe, und ich schüttle alle meine Habseligkeiten geradezu besessen aus.
Es ist fünf Uhr morgens in der Sierra Nevada de Santa Marta, dem Küstengebirge im Norden Kolumbiens. Zusammen mit unseren Guides Tanka und Christian ist unsere Gruppe Abenteuerlustiger auf einer fünftägigen Trekking-Tour zur Ciudad Perdida, der „Verlorenen Stadt“ der präkolumbianischen Tairona-Kultur.
Tanka, der zum indigenen Stamm der Wiwa gehört, kommt vorbei und lobt mich, dass ich Regel Nummer eins, immer alles auszuschütteln bevor ich es benutze, eingehalten habe. Regel drei, viel essen, treibt mich zum Frühstück in dem von Neonlicht erhellten und nach allen Seiten offenen Speiseraum. Rohe Bänke und Tische auf gestampftem Lehmboden, Trekking-Teilnehmer mit müden Augen, in der offenen Küche wird über Gaskochern gebrutzelt, auf das Blechdach prasseln Regentropfen.
Schweißtreibende Sierra Nevada
Wer einigermaßen wach ist, weil er dank Ohrstöpseln gut geschlafen hat, holt für die Gruppe Kaffee und Spiegelei mit frittierter Banane. Um die Energiespeicher ganz aufzufüllen, gibt es als Zugabe Buttertoast mit Papaya-Marmelade.
Ciudad Perdida: Los gehts
Vor dem allgemeinen Aufbruch dann Regel Nummer zwei: Alle Flaschen bis zum äußersten Rand mit Wasser auffüllen! Auch wenn es jetzt am Morgen noch feucht-kühl ist und es in Strömen regnet, sobald wir die ersten Hügel emporsteigen, wird der Schweiß schneller fließen, als wir trinken können. Und wir werden hoffen, dass es weiterregnet, damit die Sonne die Temperaturen nicht über 35 Grad Celsius treibt. Wann wünscht man sich schon Regen?
Schweigend wandern wir den ersten Kilometer durch tropfenden Urwald, dann halten wir außerhalb eines Dorfes, dessen Rundhütten aus Lehm und Holz gebaut und mit Dächern aus Palmblättern gedeckt sind. Seit einigen Monaten umgibt ein Stacheldrahtzaun die Kogi-Siedlung, um Trekker vom Betreten abzuhalten. „Viele Touristen gingen ohne zu fragen in die Hütten, fotografierten sich und die Bewohner, zertrampelten die Gärten und Felder“, erzählt Tanka. Das habe sich erst mit dem Zaun geändert.
Die indigenen Stämme tragen Weiß
Die Kogi gehören neben den Wiwa, Arhuaco und Kankuamo zu den vier indigenen Stämmen der Sierra Nevada. Auffälliges Merkmal der Indigenen ist die weiße Kleidung, die für sie die Reinheit der Natur symbolisiert. Die Kogi sehen sich als direkte Nachkommen der Tairona, einem Volk das vermutlich zwischen dem zweiten Jahrhundert vor Christus und der Eroberung durch die Spanier Mitte des 17. Jahrhunderts im Norden Kolumbiens siedelte.
Ciudad Perdida: Bis zu 8.000 Einwohner
Es entstanden Städte mit bis zu 8.000 Einwohnern, die im bergigen Terrain der Sierra auf zuvor terrassierten Flächen gebaut und mit steingepflasterten Wegen verbunden wurden. Die bedeutendste Tairona-Stadt war Teyuna, die Ciudad Perdida, die das Ziel unseres etwa 25 Kilometer langen Marsches ist.
50 Kilometer in fünf Tagen, in denen wir manchmal im Talgrund des Rio Buritaca wandern, den Fluss mehrmals durchwaten und uns über die Erfrischung freuen. Tage, an denen wir über Wurzeln stolpern, Hügel besteigen und auf der anderen Seite wieder hinunterrutschen. Überhaupt rutschen wir auf der vom Regen getränkten rot-orangen Erde ziemlich oft, entspannt ist das Gehen nur dann, wenn unser Weg einige Meter über die alten Steinwege der Tairona führt.
Trotzdem bleibt Zeit, die mystische Regenwaldstimmung aufzunehmen. Lichtreflexe huschen über den Weg, wenn die Sonne für einen Moment durch Regenwolken und Blätterdach fällt. Es vergeht keine Minute, in der es nicht zwitschert, raschelt oder quakt. Staunend stehen wir vor Blumen, die intensiv nach Honig riechen, bunt schillernde Papageien flattern unter Baumkronen, ein Tukan beobachtet uns von einem Ast aus. Wir queren die Spur eines Jaguars und stoßen auf eine Familie Halsbandpekari, die auf der Suche nach Futter durch das Unterholz streift.
Durch die stetige Nutzung des Pfades, von Bewohnern der Region und Touristen auf dem Weg zur Ciudad Perdida, verlaufen ganze Abschnitte in zum Teil viele Meter tief erodierten Hohlwegen, die bei Regen zu schmierigen Naturrutschen mutieren und für farbige Kleckse auf T-Shirts und Hosen sorgen. Tankas weiße Bekleidung ist unter diesen Bedingungen eigentlich die völlig falsche Wahl, aber während unsere Klamotten im Laufe der Tour immer dreckiger werden, ändert sich an seiner Hose und Tunika farblich nichts. Waschen können wir nicht, in der Feuchtigkeit würde nichts trocknen, aber an zwei Abenden erfrischen wir uns in den klaren Wassern des Rio Buritaca, während Tanka meditierend auf einem Felsvorsprung hoch über uns sitzt.
Narcos, Soldaten und verletzte Trekker
Der Weg zur Ciudad Perdida schlängelt sich unter dichtem Grün entlang, führt dann wieder über Waldlichtungen mit ärmlichen Bauernhöfen. Immer wieder begegnen uns Trekker, denen man die Strapazen ansieht. Manche laufen barfuß oder auf Socken, um ihre Blasen zu schonen, andere müssen, verletzt nach einem Sturz, auf Mulis zurück aus den Bergen reiten. Wir passieren Stationen der kolumbianischen Armee und tauschen Blicke mit den schwerbewaffneten Soldaten.
Auf gerodeten Hangflächen im Buritaca-Tal und anderen Gebieten der Sierra wurde bis 1965 Marihuana, später dann Coca im Auftrag von Drogenkartellen angebaut. Diejenigen Indigenen, die nicht rechtzeitig ihre Dörfer verließen und weiter hinauf in die Berge flohen, wurden mit Waffengewalt unter erbärmlichen Zuständen als billige Arbeitskräfte ausgenutzt. Über Jahre kamen bis zu 70 Prozent der kolumbianischen Kokainproduktion aus dieser Region, erklärt Guide Christian. Heute liegen viele gerodeten Flächen brach, unnutzbar für Ackerbau, kontaminiert von Glyphosat, das die Amerikaner im Kampf gegen die Kartelle tonnenweise auf die Coca-Pflanzungen sprühten.
Sierra Nevada de Santa Marta. Das Herz der Erde
Für die indigene Bevölkerung ist die Sierra Nevada de Santa Marta das Herz der Erde, deren Hüter sie sind. Ohnmächtig der Zerstörung und Ausbeutung ihrer Welt zusehen zu müssen, hat tiefe Wunden im kollektiven Gedächtnis hinterlassen, erzählt Tanka später auf unserem Weg.
Die Menschen hier leben von Subsistenzwirtschaft und dem Tourismus. Sieben Unternehmen bieten Touren zur Verlorenen Stadt an, Indigene arbeiten als Guides oder transportieren Lebensmittel zu den Touristencamps. Der größte Teil aber wohnt in abgelegenen Dörfern in den Bergen mit und von der Natur, angeleitet von Mamus, ihren spirituellen Führern.
Am Mittag des dritten Tages erreichen wir das Teyuna Paraiso Camp. Nicht weit von hier führen 1.200 Steinstufen einen Steilhang hinauf bis zur UNESCO-Weltkulturerbestätte Teyuna. Im Lager drängen sich Trekkingtouristen aus der ganzen Welt. Rund um die Holzhütten liegen und hängen Klamotten und Schuhe zum Trocknen und Auslüften, es ist eng und laut, Schweißodeur mischt sich mit Shampoogeruch. Alles passiert parallel. Während die einen bereits Fisch mit Reis und frittierte Kochbananen essen, stehen andere in langen Schlangen vor Toiletten und Duschkabinen.
Gruppen schultern Rucksäcke, um den Rückmarsch anzutreten, Neuankömmlinge suchen Sitz- oder Schlafplätze, am kleinen Kiosk werden Kekse, Cola und Elektrolytgetränke im Akkord verkauft. Eine Notfallapotheke wäre eine gute Geschäftsidee, denn regelmäßig fragen Menschen mit wundgescheuerten Knöcheln, Zehen und Fersen nach Pflastern oder Verbänden.
Hunderte Stufen bis zur Ciudad Perdida
Eigentlich war der Nachmittag zur Erholung und die Wanderung zur Ciudad Perdida für den nächsten Morgen vorgesehen, aber im Anbetracht des überdrehten Camps entscheiden wir uns für einen Besuch gleich nach dem Mittagessen. Ohne Rucksäcke, nur mit ausreichend Wasser und Stirnlampen machen wir uns auf den Weg.
Nachdem wir einen Urwaldfluss überquert haben, stehen wir am Fuß der 1.200 Steinstufen. In engen Serpentinen schlängelt sich die Treppe einen dicht bewachsenen Steilhang hinauf. Von unten sieht es immer wieder so aus, als ob wir uns durch eine schmale, grüne Röhre nach oben schieben müssten. Überall dort, wo Stufen fehlen, ziehen wir uns mühsam an armdicken Luftwurzeln oder Ästen hinauf. Alle paar Minuten machen wir auf schmalen Vorsprüngen Pause, verschnaufen, trocknen den Schweiß aus den Augen und trinken in großen Schlucken. Es ist eine ziemliche Plackerei, aber schließlich wartet am Ende unseres Abenteuers die Ciudad Perdida.
Teyuna. Hochkultur im Regenwald
Der Torwächter von Teyuna ist ein Ameisenbär, der kopfüber in den Bäumen hängt und uns neugierig betrachtet. Als wir die letzten Stufen überwunden haben, öffnet sich ein von hohen Bäumen umgebener und mit Felsplatten belegter Platz, von dem mehrere von Stein umfasste Terrassen abgehen und sich im Wald verlieren. Bevor wir weiter vordringen, führt Tanka mit uns eine Dankeszeremonien auf und wir umkreisen den runden ehemaligen Tempelplatz im Uhrzeigersinn. Die Cocablätter, die wir spenden und in die Kreismitte auf einen Stein legen, sollen wir mit positiver Energie aufladen, erklärt uns Tanka.
Minutenlang sind wir still und meditieren. Zikadengesang umgibt uns, irgendwo in der Ferne rauscht Wasser. Vom Blätterdach uralter Baumriesen tropft unablässig Regen, die Luft ist frisch, es riecht nach Orchideen und feuchter Erde.
Schließlich wandern wir langsam über von Steinstufen verbundene Terrassen weiter nach oben. In seiner Blütezeit hatte Teyuna davon 567, von denen heute noch 200 zu sehen sind. Jede Familie lebte auf einer Terrasse, in deren Mitte die Rundhütten standen. Am höchsten Punkt errichteten die Tairona den Haupttempel, von dem aus sie Sterne und Planeten beobachteten und in ihrer Vorstellung die stärkste Energie floss. Archäologen gehen davon aus, dass die Stadt das spirituelle Zentrum der Kultur war, in der vor allem Schamanen und ihre Familien lebten.
Als die Spanier schließlich nach hundert Jahren Krieg die Stadt erobert hatten, begann der Niedergang. Ein Viertel der Tairona soll kollektiven Selbstmord begangen haben, fünfzig Prozent starben an von den Europäern eingeschleppten Krankheiten, der Rest der Bevölkerung verschwand in den Bergen und ging in den vier indigenen Stämmen auf, die noch heute hier siedeln.
Der Schamane der Ciudad Perdida
Am höchsten Punkt Teyunas lebt ein Schamane. Seine spirituelle Bedeutung für die indigene Bevölkerung ist so groß, dass er zusammen mit seiner Frau auf einem kolumbianischen Geldschein verewigt ist. Uns begrüßt ein kleiner Mann mit langen, schwarzen Haaren und runden Backen voller Cocablätter. Lange blickt er einen nach dem anderen an, dann segnet er uns und sagt, dass er bei uns keine negative Energie spüre. Wir seien willkommen und sollten die Kraft des Ortes, die Ehrfurcht vor der Natur in die Welt tragen.
Still und irgendwie beseelt erreichen wir kurze Zeit später einen Aussichtspunkt über die Verlorene Stadt. Hier erzählt Tanka vom Anbeginn der Welt. „She“, das Licht, war vor allem und ist der Kern ihres Glaubens. Aus ihr entwickelten sich das Weltall, die Götter, die Erde. Die Berge ringsum sind der Nukleus, der von den Wiwas und den anderen Indigenen für immer behütet werden muss. Deshalb gehöre das Land auch niemandem und sie seien verpflichtet, für alles, was sie dem Land nähmen, positive spirituelle Energie zurückzugeben. Darum seien sie in Gedanken immer in positivem Kontakt mit der Umwelt.
Tanka gibt das Erbe seiner Kultur weiter
Sein Vater, sagt Tanka, sei Mamu und habe ihn beauftragt, als Guide Gästen ihre Kultur näherzubringen. Wir sollten verstehen, dass die Erde niemandem gehöre und wir sie nur geliehen hätten. Das alles eine Spiritualität habe, an der man sich nicht vergehe.
Auf einem Kamm zwischen zwei Tälern haben die Tairona die Stadt erbaut. Ein Ort größter Spiritualität. Auf den Bergen ringsum wächst Primärer Regenwald, unter uns erstecken sich mehrere oval geformte Terrassen, die von gut erhaltenen Steinmauern gestützt werden. Links und rechts davon fallen steile Hänge ab, über allem hängen dunkle Regenwolken. Eine Ameisenstraße verläuft zu unseren Füßen, Königs-Schwalbenschwänze haben sich auf Farnblättern niedergelassen, und aus der Ferne dringen Schreie von Brüllaffen.
Nehmt die Kraft der Ciudad Perdida auf, hat Tankas noch gesagt, und nehmt sie mit hinaus in die Welt. Tragt Verantwortung für die Zukunft und vergesst Besitz.
Habt ihr Lust auf eine weitere Trekkingtour? Oder wollt ihr doch lieber in europäische Wälder eintauchen?
Ciudad Perdida
INFO CIUDAD PERDIDA
Anreise
KLM und AirFrance fliegen täglich nach Bogotá. Von dort kann man mit Bus oder Inlandsflug nach Santa Marta weiterreisen. Hier beginnen in der Regel die geführten Touren zur Ciudad Perdida.
Beste Reisezeit
Das Klima in Regenwald der Sierra Nevada de Santa Marta ist ganzjährig schwül und heiß. Am Tag klettern die Temperaturen hier im Dschungel Kolumbiens oft auf über 30 Grad. Die beste Reisezeit für ein Trekking zur Ciudad Perdida liegt im europäischen Winter. Die geringsten Niederschlagsmengen fallen in der Regel zwischen Dezember und März. Dann sind die Wege weniger schlammig und die Flussquerungen einfacher.
Tourvorschlag
G Adventures bietet als einziger Reiseveranstalter die Trekking-Tour zur Verlorenen Stadt, Ciudad Perdida, gesichert mit Wiwa-Guide an. Damit profitieren auch wirklich indigene Gemeinschaften vom Tourismus. Start und Endpunkt der Tour ist die Stadt Santa Marta in Nordkolumbien. Eine gute Grundfitness ist Voraussetzung. Die Übernachtungen erfolgen in einfachen Dschungelcamps. gadventures.com