Wer die grandiosen Weiten der Northwest Territories erleben möchte, fliegt nach Inuvik. Von dort geht es auf dem Dempster Highway zum Klondike und zum Eismeer
Der 21. Dezember 1910 war ein kalter, klarer Tag. Die Woche zuvor hatte ein Blizzard gewütet, nun lag das Tal des Peel River unter einer dicken Schneeschicht, die Bäume bildeten bizarre Eisskulpturen. Als die vier Männer der Royal North-West Mounted Police mit ihren Hundeschlitten Fort McPherson verließen, sahen sie in der Ferne die geschwungene Linie der Richardson Mountains. In spätestens vier Wochen wollten sie ihre Patroullie auf der anderen Seite der Berge in Dawson City beenden. Vor ihnen lagen 600 Kilometer durch unwegsames Gelände, tiefen Schnee, Dunkelheit und eisige Temperaturen.
Als die Gruppe Ende Februar noch immer nicht in Dawson City eingetroffen war, wurde ein Suchtrupp ausgesandt. 40 Kilometer vor Fort McPherson fand man die vier Männer. Ihre Körper ausgezehrt, erstarrt in der eisigen Kälte.
Great Slave Lake
Einen der ersten Tipps, die man bekommt, wenn man sich mit dem Auto alleine in die Weiten der Northwest Territories aufmacht, lautet: immer genügend Proviant und Benzin für den Notfall dabeihaben. Auf einer Fläche von der Größe Frankreichs, Spaniens und Deutschlands zusammen leben lediglich 43.000 Menschen, fast die Hälfte davon in der Hauptstadt Yellowknife. Wer hierher kommt, der will Weite und Einsamkeit. Und jetzt im September die warmen Farben des Herbstes.
„Das gibt ein schönes Mittagessen“, sagt Outdoor-Guide Pierre-Benoit und schneidet die Seeforelle auf, die er zuvor aus dem Great Slave Lake geangelt hat. Kurze Zeit später brutzeln zwei Filets über dem Feuer und wir entspannen in Hängematten. Zwischen Polarbirken und Balsamtannen hindurch blicken wir über den See weit nach Süden. Der Great Slave ist beinahe so groß wie Brandenburg; an seinem westlichen Ende entspringt der Mackenzie River.
Vier Stunden sind wir von der Hauptstadt Yellowknife gepaddelt, immer von borealem Wald umgeben. Als Einstieg ist mir das genug Wildnis, aber Pierre-Benoit ist anderer Meinung. Er schwärmt von wochenlangen Kanutouren auf Flüssen, die man erst nach Stunden mit dem Wasserflugzeug erreicht. „Ich liebe die Weite der Wildnis, ihre Einsamkeit“, sagt er und dann ist es Zeit für gegrillte Forelle.
Yellowknife. DIE Stadt der Northwest Territories
Am Abend zuvor vorher war ich in Yellowknife angekommen, war schlaflos und streunte noch vor Sonnenaufgang durch die Stadt. Während im Osten langsam die Dämmerung über der Stadt kroch, wanderte ich die menschenleere Franklin Avenue entlang, vorbei an schmucklosen Hochhäusern, Schnellrestaurants, Reisebüros und Outdoor-Läden.
Die Luft war frisch, in der Ferne überquerte ein Hund die Straße. Aber irgendetwas stimmte nicht, irgendetwas fiel mir unterbewusst auf.
Und zwei Stunden später, in der Wärme des Red Apple Restaurants wusste ich es: Es waren die Schriftzeichen, japanische und chinesische, die an allen Geschäften und Lokalen Menüs oder Öffnungszeiten zeigten. Nach den Kanadiern stellen Asiaten den größten Teil der Touristen in den Northwest Territories. „Sie kommen hauptsächlich, um Polarlichter zu beobachten“, erklärte mir die Kellnerin, als sie meine üppige Frühstücks-Combo servierte, „Sie sagen, Polarlichter erhöhen die Fruchtbarkeit, aber ich merke davon nichts.“
Das Wetter plant für mich
Fort Simpson liegt am Mackenzie River und besteht aus einer Handvoll Häuser und einem Flugplatz. Von hier aus will ich in den Nahanni Nationalpark fliegen, einer Bergregion mit spektakulären Canyons, Wasserfällen und heißen Quellen. Jedem Besucher der Northwest Territories wird Nahanni ans Herz gelegt. Bei meiner Ankunft stürmt und regnet es, ich beziehe Quartier im gemütlichen Mackenzie Rest Inn.
Die folgenden Tage bin ich der einzige Gast, hoffe auf einen Wetterumschwung, esse hausgemachte Schoko-Cookies und wandere am Mackenzie entlang bis zur Einmündung des Liard River.
Mackenzie River. Lebensader der Northwest Territories
Am sandigen Ufer liegen Baumskelette, die Raben als Ausguck dienen. Der Mackenzie ist hier etwa zwei Kilometer breit, ein imposanter Strom, an seinen Ufern dichter Mischwald, dessen Laubfärbung selbst jetzt im Nieselregen durch das Grau schimmert. Außer dem Drippdripp der Regentropfen auf meiner Jacke ist es absolut still. Die Luft ist weich und riecht nach nassem Holz. Die Landschaft ist nur eine schmale Fläche unter weitem Himmel, beide Flüsse verschwinden in der Ferne.
Der Mackenzie River ist ein wiederkehrender Begleiter auf dieser Reise ducrh die Northwest Territories. In Inuvik, 1500 Kilometer weiter nördlich, treffe ich wieder auf ihn. Um hierher zu gelangen, muss man auf Schotterpisten 2500 Kilometer über das Yukon-Territorium fahren oder fliegen.
Inuvik. Iglukirche neben Gewächshaus
Inuvik wurde ab1950 im Norden der Northwest Territories gebaut und liegt an der Grenze zwischen Taiga und Tundra. Rund um die Kleinstadt mit ihren bunt gestrichenen Holzhäusern, der architektonisch ausgefallenen Kirche in Igluform und dem Gewächshaus in der ehemaligen Eissporthalle erstreckt sich unberührte Wildnis. Wildnis, die die Menschen hier seit der Besiedlung vor etwa 14.000 Jahren mit Nahrung versorgt. Und so kann es durchaus passieren, dass man sich mit jemandem verabredet, der sich aber kurzfristig aufgrund guten Wetters entscheidet, für zwei Wochen in sein Wildniscamp zu reisen, um sich für den Winter einzudecken. Für viele Familien essentiell, denn der Winter ist lang und der Einkauf im Supermarkt von Inuvik sehr teuer.
Superfood der Tundra
Es ist noch dunkel und ich fröstle, als ich meinen Pickup vor dem „News Stand“-Imbiss parke. Ausgerüstet mit Bananen, Müsliriegel und frischem Kaffee mache ich mich auf den Inuvik-Tuktoyaktuk Highway, 142 Kilometer in Grizzlys Wohnzimmer. „Remember you are in bear country“ steht kurz nach dem Ortsausgang. Ein Pickup kommt mir entgegen, Sled Porn“ grüßt ein Aufkleber von der Windschutzscheibe. Sonst nur Nebel und das schwarze Pistenband zum Arktischen Ozean. Also Kopfkino anschalten, Heizung hochdrehen, Abenteuer, ich komme.
Wie in einem Tunnel fahre ich, bis sich der Nebel plötzlich lichtet und sich die Sonne zeigt. Ich bin an der Baumgrenze angekommen. Der boreale Wald ist verschwunden. Tundra überall bis zum Horizont, nur vereinzelt ragen Bäume aus der leicht gewellten Landschaft. Über Tausende Quadratkilometer erstreckt sich ein unbegreiflich großes Gebiet, bedeckt von Moosen, Flechten und niedrigen Arktis-Weiden, dazwischen Seen, gesäumt von Wollgras.
Jedes Jahr gießt der Herbst über die urwüchsige Landschaft der Northwest Territories leuchtendes Gelb-Rot. Die nächsten Stunden steige ich immer wieder aus, weil ich mich nicht sattsehen kann, wandere in die Tundra, rieche die feuchte Erde, sammle Hände voll Cranberries und lausche der Stille.
„Du hast Kimmingnaq, Cranberries, gesammelt? Hast du auch Aqpiit, Moltebeeren, probiert?“, fragt mich die Eileen Jacobson, die ich am Highwayende in Tuktoyaktuk vor ihrer Räucherhütte treffe. Eileen gehört den Inuvialuit an, den Ureinwohnern der westkanadischen Arktis. Ihre Sprache wird Inuvialuktun genannt, der Ort Tuk zum überwiegenden Teil von ihnen bewohnt.
Tuktoyaktuk: Belugahaut und Moschusochsenfleisch
Zwischen den kleinen Häusern am nördlichsten Ende der Northwest Territories stehen Schneemobile, trocknen Fische und abgezogene Karibuhäute. Staubige Dorfstraßen schlängen sich um Lagunen und Seen.
Eileen lässt mich ein paar traditionelle Snacks probieren. Es gibt maqtaq, gekochte Belugahaut mit Fett, getrockneten Wal und geräuchertes Moschusochsenfleisch.
Im Herbst, erzählt Eileen, lebe sie mit ihrer Familie im Tundra-Camp, um Karibus und Moschusochsen zu jagen und Beeren für den Winter zu sammeln. Aber das Klima ändere sich extrem, auch im nördlichsten Teil der Northwest Territories. „Die vergangenen Jahre war es so warm, dass der Permafrostboden immer tiefer auftaut. Das macht es schwieriger, sich in der Tundra zu bewegen. Und das Meer frisst sich in die Küste und hat bereits mehrere Häuser mitgerissen.“ Deshalb müssten viele Familien die direkt an der Beaufortsee wohnen, nun in ein neues Viertel ziehen.
Wie gehe das mit der Schule, wenn man monatelang im Buschcamp lebe, frage ich Eileen. „Ich habe meinen Sohn bis zur 7. Klasse selbst unterrichtet“, antwortet sie. „Ich musste ins Internat, das wollte ich ihm ersparen.“ Als ich nachfrage, wird ihr Gesicht hart: „Ich habe überlebt. Der Rest ist Geschichte.“
„Bring mir Steine aus den Richardson Mountains mit“, bittet mich Steinschnitzer Ryan Taylor, nachdem ich einen steinernen Eisbären bei ihm gekauft habe und nach einem Ausflugstipp fragte.
Mit diesem Auftrag in der Tasche fahre ich von Inuvik auf dem Dempster Highway Richtung Westen.
Auf dem Dempster Highway
Die Schotterpiste zieht sich durch Mischwald, der in der tief stehenden Morgensonne knallorange leuchtet. Zwergbirken, Espen und Balsampappeln bilden den bunten Hintergrund für die Silhouetten der Schwarzfichten. Immer wärmer wird es, und schließlich mache ich eine Badepause. Als ich mich in der Seemitte auf den Rücken drehe und in den blauen Himmel gucke, denke ich kurz an die Grizzly-Gefahr. Aber schließlich bin ich ja im Wasser und wer hat je von einem Bären gehört, der einen Schwimmer anfällt? Sofort fühle ich mich wieder sicher und picknicke anschließend sogar noch auf der Pickup-Ladefläche. Dass Grizzlys ausgezeichnete Schwimmer sind, erfahre ich erst daheim aus einer Tierdoku …
Nach der Fähre über den Mackenzie River besuche ich in Fort McPherson das Grab der erfrorenen Mounties. Ihre Namen sind in ein weißes Kreuz gemeißelt, dahinter stehen Birken, die sich im Wind wiegen. Nicht weit vom Ort bringt mich eine weitere Fähre über den Peel River, und die Richardson Mountains rücken immer näher.
Reifenpanne im Niemandsland
Die Uhr immer im Auge, die letzte Fähre über den Mackenzie darf ich nicht verpassen, hinterlasse ich eine lange Staubwolke auf dem Dempster. Die ersten Hügel nehme ich wie im Flug, der Wald ist verschwunden und ich sause an dürr bewachsenen Hängen entlang. Dann zischt es, ich bremse, und habe einen Platten.
Zwei Stunden hantiere ich an den Schrauben des geplatzten Reifens, fluche, hole aus einem weit entfernten Rinnsal Wasser um den Dreck von den Schrauben zu waschen, und schließlich lösen sie sich. Für Steinesammeln ist es nun zu spät, Abenteuer hatte ich genug und so jage ich zurück nach Osten.
Im schwindenden Tageslicht schaffe ich es gerade noch auf die letzte Fähre über den Mackenzie. Verdreckt, müde, aber glücklich blicke ich über den dunkelblau dahinströmenden Fluss. Darcy, der Fährkapitän, guckt aus seiner Steuerkabine: „Wo kommst du her?“ Deutschland, antworte ich. „ Eine verdammt lange Reise, um auf unserem Boot zu fahren, vielen Dank!“, sagt er.
Das stimmt, denke ich, aber es war jede Meile wert.
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Northwest Territories
INFO NORTHWEST TERRITORIES
Anreise
Mit Air Canada tgl. ab Deutschland nach Yellowknife, mit Umsteigen z.B. über Calgary, Edmonton oder Vancouver
Reisezeit
In den Northwest Territories sind die Sommer kurz und dauern von Juni bis Ende August. Die Laubfärbung beginnt bereits Ende August, ab diesem Zeitpunkt bis Anfang Juni sind auch Polarlichter mit großer Wahrscheinlichkeit zu sehen.
Infos
Ausführliche Informationen uber die Northwest Territories mit Routenvorschlägen und weiteren Tipps unter spectacularnwt.de , Gedrucktes Infomaterial über Tel. 01805-52 62 3
Übernachten
Capital Suites Hotel
Geräumige Zimmer und sehr hilfsbereites Personal nur wenige Gehminuten vom Stadtzentrum Yellowknif entfernt. capitalsuites.ca
Mackenzie Rest Inn
Große, sehr gemütliche Zimmer mit Blick auf den Mackenzie River. Hervorragendes Frühstück das Besitzer Mike täglich frisch zubereitet. Tagsüber stehen Kaffee und Tee sowie hausgemachte Cookies für die Gäste bereit. Fort Simpson. mackenzierest.ca