Das Hölloch, zweitgrößtes Höhlensystem Europas, lädt zum Höhlentrekking der besonderen Art mit Übernachtung tief im Berginnern
Ohne nachzudenken tauche ich kopfüber in ein schulterbreites Loch. Krabble im Schein der Stirnlampe die Felsebene nach unten, die Knie und Handballen auf buckligem Stein, links und rechts viel Platz, nicht aber über dem Kopf. Nach einigen robbenden Metern bergab die verzögerte, gedankliche Verarbeitung: Was zur Hölle mache ich nur hier? Diese sogenannte „Wiedergeburt“-Passage ist doch kein Muss, eher eine Mutprobe. Doch nun ist es zu spät, ich stecke in der Klemme, im Wiedergeburtskanal.
Vor mir gibt Guide Marcel Rota Kommandos. In seinem Schwyzerdütsch, das manchmal aus ihm herausbricht: „Bei der Lache musst du dich huren!“ Bitte was? „An der Wasserstelle bücken und auf den Knien rutschen!“ Ich studiere also die Verrenkungen meiner Vorderfrau Vera und versuche, mir einzuprägen, wo sie sich bückt und auf den Knien rutscht. Doch plötzlich rutsche ich ins hüfttiefe Becken ab, das rechte Bein pitschnass.
Aber was soll’s! Dreckig und angefeuchtet war ich schon vorher. Mit leichtem Ziehen im Rücken schiebe ich mich durch das Loch oberhalb der Lache. Und muss selbst lachen, als ich zurückblicke: Durch diese Schrägspalte bin ich durch? Da fühl’ ich mich doch angesichts des 25 Meter hohen „Wasserdoms“, wo ich jetzt stehe, in der Tat wie neugeboren.
56 Tierarten im Dunkeln, womöglich mehr!
Aus einer Deckenecke sprüht ein Wasserfall, dessen Gischt sich in einem Becken sammelt, als Bach weiterrinnt und hinter der “Wiedergeburt” im Fels verschwindet. Hier ein „Kiesstrand“, dort sich auftürmende Felsen – wer hätte gedacht, dass sich tief im Inneren der Schwyzer Alpen solche Schönheiten befinden? Und so viel Leben. Etwa farblose Niphargus-Flohkrebse, die uns Marcel im Wasser zeigt. „Im Hölloch leben 56 Tierarten, vor allem Würmer, Krebse, Spinnen sowie Insekten“, erzählt der 55-Jährige.
Nachvollziehbar also, dass Höhlenforscher aus aller Welt hier Tage unter Tage verbringen. Aber eben auch Hobbyabenteurer, die beim Höhlentrekking gern in unbekannte Tiefen eindringen, gar dort nächtigen. So wie wir. Samstagfrüh rein, Sonntagmittag wieder raus – so der Plan. 26 Stunden Höhlentrekking ohne natürliches Licht, ohne gewohnte Geräusche und Gerüche. Und ohne Zeitgefühl: Uhren und Smartphones bleiben in der Hütte am Muotathaler Ortsrand.
Es folgen ein kurzer Außenaufstieg zum Höhleneingang und nach dem Passieren des selbigen eine halbe Stunde, die sich noch leicht angeht. Eingeebnete Wege, Treppen, Überreste einer Stromversorgung, die beim Hochwasser 1910 zerstört wurde. Danach war die 1875 vom Bauern Alois Ulrich entdeckte Höhle lange verwaist, auch nach der „Wiederentdeckung“ in den 1950ern wurde auf Scheinwerfer, Beschallung und Bahnen verzichtet. „Wir sind keine Showhöhle, wir sind eine Trekkinghöhle“, bringt es Marcel auf den Punkt und betritt an der „Kanzel“ den „wilden“ Höhlenteil ohne feste Wege, Beschilderung und Beleuchtung. Nur wenige Schlüsselstellen sind mit Seilen oder Leitern gesichert.
Höhlentrekking de luxe
Die Karawane passiert schließlich das „Windtor“, an dem der schmale Gang mit Holzlatten verengt, gar komplett geschlossen werden kann. Am deutlich spür- und hörbaren Sogeffekt merkt man, ob die Luft von den Höhlenausgängen rund 900 Höhenmeter weiter oben kommt oder dorthin strömt. Zweierlei ist daran wichtig: Erstens merken alle, dass in der Höhle genug Sauerstoff vorhanden ist (er wird zu keinem Zeitpunkt während der Tour knapp!), zweitens lassen sich aufgrund thermodynamischer Gesetze Rückschlüsse auf das Wetter ziehen.
Weht die Luft durch das „Windtor“ hinauf, ist es oberhalb von 2.000 Metern kälter; Niederschlag fällt dort meist als Schnee, fällt er als Regen, könnte zu viel Feuchtigkeit durchsickern und – mit etwa sieben Stunden Verzögerung – ernsthafte Probleme in der Höhle verursachen. Vielleicht auch für uns: Für Sonntagfrüh ist Starkregen angesagt. „Wenn wir morgen um 14 Uhr nicht draußen sind, setzen sich 60 Retter in Gang“, erklärt Marcel die Alarm-Organisation. Als Einziger hat er eine Uhr dabei, verrät uns aber nie die Zeit.
Mit dem Gummiboot durch den Siphon
Schlüsselstellen sind die u-förmigen, erst vor kurzem gefluteten „Siphons“. Selbst beim Check am Tag vor unserer Tour, der ersten in der neuen Saison, musste Marcel noch eine Stelle durchschwimmen, bei vier Grad kaltem Wasser. Als wir nun dort ankommen, steht für uns ein Gummiboot bereit, mit dem wir den 15 Meter langen See überqueren. Lässig!
Seit 25 Jahren führt Marcel Gruppen ins Hölloch – und sprüht immer noch vor Begeisterung. „Ich bin 120 Tage im Jahr in der Höhle.“ In seiner Höhle, könnte man sagen, wenngleich sie formal der Trekking Team AG gehört. Zumindest kaufte deren Geschäftsführer Peter Draganits 1995 die touristischen Nutzungsrechte, die aufgrund der Lage im Naturschutzgebiet strengen Auflagen unterliegen.
Höhlentrekking: Auf die inneren Werte kommt es an
In flottem Tempo geht es voran. Hinter uns liegen die grob- bis feinkiesigen Hänge an den Siphons, entstanden durch das vom Wasser angeschwemmte Schuttmaterial. Vor uns erhebt sich die „Böse Wand“. 40 Meter führt eine Eisenleiter hoch, letztlich ein normaler Klettersteig, doch das Dunkel hinter dem Scheinwerferlicht sorgt für eine besondere Stimmung. Oben angekommen geht der weitere Weg munter rauf und runter, mit einer Tendenz zum Rauf. Wir fühlen uns wie Bergsteiger, nur dass die Erhabenheit fehlt, die über den Gipfeln liegt.
Wobei manche Passagen überraschende Dimensionen haben, wie etwa der „Riesensaal“ oder manch übermannshohe, lange Gänge. Es folgen aber auch niedrigere Abschnitte, Hänge, bei denen man die Hände zu Hilfe nimmt oder gar auf dem Hosenboden hinabrutscht. Ab und an gilt es, sich zu verrenken, bis wir schließlich das rund drei Kilometer vom Höhlenausgang entfernte Nachtlager erreichen. Wir sind also ganz tief drin.
Hier fließt Wasser und lagern Vorräte, Kerzen, Karbonitlampen, Benzinkocher. Mit dem wird sogleich Tee und Kaffee gekocht und am großen Tisch konsumiert. Danach geht es ohne Rucksack, aber mit frischer Energie auf zu Runde zwei – mit noch stärkerem Expeditionscharakter. Tropfsteine in den unterschiedlichsten Ausprägungen, rutschige Hänge und Spalten, wo wir uns, ohne große Sicht nach unten, in Klemmtechnik ablassen, bis wir mit den Füßen Halt spüren.
An anderer Stelle gilt es, beherzt einen weiten Schritt auf eine windige Leiter zu machen, die ins Dunkel führt. Wieder wo anders geht es nur auf Knien und Unterarmen weiter. In einem noch engeren Gang muss sogar kurz der Helm ab. Als Größter der Gruppe ziehe ich auf Anraten zudem den Pulli aus. Gut, denn nur so zwänge ich mich durch den finalen Spalt! Im Anschluss gibt es nicht nur Schokoriegel, sondern auch ein spezielles Erlebnis. Wir liegen alle im Kreis und machen einer nach dem anderen das Licht aus. So stockdunkel kennt man die Welt sonst nicht. Und so leise.
Ruhe und Runde enden wieder am „Dom-Biwak“. Nun ist Teamarbeit gefragt: Tisch decken, Baguettes schneiden, Fondue zubereiten. Schmeckt außerordentlich fein. Irgendwann geht es ab ins Bett – ein Podest, auf dem bis zu 20 Leute ihren Schlafsack ausrollen können. Wie spät es wohl ist? Die Rate-Antworten liegen zwischen 22 und 3 Uhr. Ich jedenfalls fühle mich trotz tiefster Dunkelheit hellwach, und als wir von Marcel im nahezu unveränderten Dunkeln wieder geweckt werden, könnte ich nicht sagen, ob ich zehn Minuten oder zehn Stunden geschlafen habe.
“Nirwana” und “Styx” beflügeln die Fantasie
Auf dem Heimweg passieren wir schließlich die „Alligatorenschlucht“, das „Aquarium“ und den Abzweig zum „Nirwana“ und “Styx”. Doch das weitläufige obere Höllochsystem ist Profis vorbehalten. Wir dagegen haben lediglich einen Miniausschnitt erlebt, als wir wieder das Tageslicht sehen.
Wobei es wie aus Kübeln schüttet und enorm abgekühlt hat. Das haben wir bereits am „Windtor“ geahnt, wo es diesmal aus umgekehrter Richtung pfiff. Wie spät es denn sei, wollen alle von Marcel wissen. „Demnächst 14 Uhr, ich geb rasch Bescheid, damit die Retter nicht ausrücken.“ Und wann wir geschlafen hätten? „Von halb zwei bis halb sieben.“ Macht also über 20 Stunden auf den Beinen, rund zehn Kilometer und über 1.000 Höhenmeter. Nicht übel, sagt meine innere Stimme. Und Veras Stimme sagt, exemplarisch: „Ich würd’s wieder machen, vielleicht sogar länger.“
Lust auf weitere Outdoor-Aktionen – aber etwas weniger beengte?
Wie wäre es mit einer Biophilia-Tour in Tirol oder einem Dschungeltrekking in Kolumbien?
Höhlentrekking
INFO HÖHLENTREKKING
Die Höhle, die im deutschsprachigen Ort Muotathal (Weiler Stalden) im Schweizer Kanton Schwyz liegt und in der eine Temperatur von konstant rund sechs Grad und teils 100 Prozent Luftfeuchtigkeit herrschen, ist ausschließlich mit Guide erlebbar.
Veranstalter
Trekking Team als alleiniger Veranstalter bietet neben Mehrstunden- auch Mehrtagesexkursionen inklusive Biwakübernachtung an. Eine 2-Tage-Tour (Start: 10 Uhr, Ende: 17 Uhr am Folgetag) kostet 455 Schweizer Franken und ist von Anfang November bis Mitte März möglich. Die Gruppengröße beträgt 5–9 Personen, Einzelpersonen können sich Gruppen anschließen. trekking.ch