Lange war Medellin in den Augen der Welt mit Drogenkönig Pablo Escobar verknüpft. Doch die einst gefährlichste Stadt der Welt erfindet sich neu
„PffffPffffPffff“ – zum Geräusch schwebt ein leichter Sprühregen ins Innere der Gondel. Ein freundlicher Herr im grünen Overall schiebt sich zur gleichen Zeit herein. Wie ein eingespieltes Tanzpaar wechseln wir die Seiten. Ich trete auf die Plattform der Station Aurora hoch über den Dächern von Medellín, er wienert in schnellem Rhythmus durch das Gondel-Innere, wischt Sitze und Boden und versprüht zum Abschluss duftendes Raumspray.
Dieser Tanz wiederholt sich nicht nur hier, an der Endstation der gelben J-Linie, beständig: Überall in Medellíns weitläufigem Transportnetz wird geputzt, gewischt und gesprüht, mit einer Euphorie, als ginge es darum, die Stadt blütenrein zu waschen.
Medellín: Das Image der Stadt wird aufpolliert
Eine Bemerkung, die unseren Guide German Castro vor Freude strahlen lässt. „Genauso ist es ja auch! Medellín galt lange genug als dreckig, gefährlich und aggressiv. Dieses Image aufzupolieren, ist nicht einfach. Die hartnäckigsten Flecken haben wir wenigstens schon beseitigt“, sagt der quirlige Englisch-Lehrer.
Es ist ein Wandel, der vor zwei Dekaden noch wie ein unerreichbarer Traum weit entfernt hinter den Bergketten der Anden lag. Damals klebte das Label „Gefährlichste Stadt der Welt“ wie zäher Kaugummi am Image von Kolumbiens zweitgrößter Stadt, die jahrzehntelang von Drogenkartellen, Guerilla-Kämpfern der Farc, korrupten Politikern und Drogenbaronen immer tiefer in den Dreck gezogen worden war, allen voran Pablo Escobar.
Medellíns Bad Boy – der, dessen Namen man nicht nennt
Bei der Erwähnung des weltbekannten Drogenbarons, der Kolumbien in den 1980er- und 1990er- Jahren zum Kokain-Dreh- und Angelpunkt gemacht hat, verzieht German verärgert das Gesicht. Escobar fällt heute bei vielen Einheimischen in die Kategorie: „Der, dessen Name nicht genannt werden darf“.
Wie sich die Stadt ihre Selbstständigkeit zurückerkämpft? „Durch das Transportsystem!“ German lacht über mein verdutztes Gesicht. „Ich weiß, das klingt wie ein Witz. Aber der Bau der U-Bahn 1994 war der Anfang des Neubeginns. Sie hat uns neues Vertrauen gegeben. Plötzlich wurde den Bewohnern der Stadt klar, dass sich auch hier die Dinge ändern können. Es war der Startschuss zu einer sozialen Revolution in Medellín.“
Kein Wunder also, dass das mittlerweile gut ausgebaute und durchdachte Transportsystem die Einwohner mit größtem Stolz erfüllt. Bereits vier Jahre bevor die erste U-Bahn durch die Stadt fuhr, erhielten Klein und Groß Benimm-Kurse in Metro-Kultur: Alles sauber halten! Keine Kaugummis! Kein Rumgeschmiere! Kein Anrumpeln!
Medellíns Metro-Manieren bekommen Bestnoten
Die Regeln prangen heute auf großen digitalen Tafeln zum Nachlesen an den Stationen, die Einwohner haben die Etikette aber längst verinnerlicht. Selbst in der Rush Hour stehen die Einwohner der 2,5-Millionen-Stadt in penibel geraden Schlangen geduldig am knallvollen Bahnsteig, Drängeln ist verpönt.
„Für dich ist es nur eine U-Bahn. Sie hat aber die Psychologie unserer Stadt verändert“, sagt Pedro Silvar, der mit Mopp und Eimer am zentralen Umsteigebahnhof San Antonio die Glasscheiben säubert. Früher, so erzählt der Mitfünfziger, habe er sein Barrio, sein Stadtviertel, so gut wie nie verlassen. Wie auch?
Die Seilbahn verbindet Medellíns Barrios
Medellín ist so hügelig und die meisten der armen Wohngegenden sind so eng in die steil aufragenden Felswände gebaut, dass der Rest der Stadt für viele unerreichbar war. Das Barrio wurde zum Lebensmittelpunkt und dabei oft von einer Gang regiert. Ausbrechen war unmöglich. Aber dann kam die Seilbahn und wurde zu einer Brücke in andere Teile der Stadt. Das heißt nicht, dass die Brutalität der vergangenen Epochen vergessen oder ausradiert ist.
Graffiti in der Comuna 13: Verschönerung und Mahnmal
Medellíns Schmerz wird heute verstärkt in Kunst, Kultur und in Form vieler Graffiti verarbeitet. Wie in der Comuna 13, hoch über der Stadt. Früher wurde diese Nachbarschaft von brutalen Gangs regiert. Heute ziehen täglich Touristengruppen an bunten Wandbemalungen und kleinen Ständen vorbei, die T-Shirts mit den besten Comuna-13-Motiven verkaufen. Graffiti gelten in Medellín als Verschönerung der grauen oder braunen Hausfassaden. Meterhohe, knallbunte Murals erzählen von der traurigen Vergangenheit.
Medellín – „Stadt des ewigen Frühlings“
Die Lage in einem langen Tal zwischen zwei Anden-Gebirgskämmen hilft, die Metropole bei Touristen auf die „To-Visit-Liste“ zu bringen. Die Hauptstadt der Provinz Antioquia ist eine fruchtbare Region, die für ihre Kaffeeplantagen, Blumenfarmen, Orchideenzucht und Schmetterlinge bekannt ist und dank des immer milden Klimas gern als „Stadt des ewigen Frühlings“ bezeichnet wird.
Überall gibt es Gärten, Parkanlagen und hübsche Plätze mit Bänken, wo Gitarrenspieler Passanten zum Salsatanz auffordern. Musik und Kultur wird zelebriert. Restaurants, Cafés und in Food-Märke umgewandelte Industriegebäude, wie der Mercado Rio, sind immer gut gefüllt.
Kunst findet sich in Medellín nicht nur in Museen, sondern auch auf vielen öffentlichen Plätzen: Am Parque Berrio ragen beispielsweise die breiten Hintern und üppigen Brüste von 23 Bronzeskulpturen Fernando Boteros, dem berühmtesten Künstler Lateinamerikas und Medellíns berühmtestem Sohn, in den blauen Himmel. So manch einer rubbelt kichernd an ganz bestimmten (und sehr polierten) Stellen der Kunstwerke … – das soll ewiges Verliebtsein garantieren.
„Salón Málaga“: Eine Runde Tango, bitte!
„Man kann dem Verliebtsein aber auch mit einem Gläschen Aguardiente nachhelfen“, lacht die gutgelaunte Bedienung im „Salón Málaga“ und platziert eine Flasche des kolumbianischen Anis-Schnapses auf dem Holztisch. Nach dem vierten Glas sehe jedes Gegenüber wunderschön aus, bekräftigt German. „Alternativ kann man sich damit auch Mut antrinken“, murmelt Fotograf Thomas Linkel, während wir uns etwas unwillig in die Reihen der Tangotänzer im Untergeschoss des Cafés stellen.
German hat die Tanzstunde als essenzielle Medellín-Erfahrung aufs Programm gesetzt und nicht mit der Rhythmus-Unfähigkeit deutscher Journalisten gerechnet. Ein paar Schrittfolgen bleiben letztendlich hängen, alles andere wäre laut meinem Tanzpartner Gustavo eine Schande: „Immerhin seid ihr hier in der Tango-Hochburg schlechthin.“
Neben einer nostalgischen Ader für die guten alten Tango-Zeiten pulsieren in Medellín zunehmend Kreativität, Stil und Innovation. In der schicken Nachbarschaft El Poblado etwa werden Designer-Outfits ausgeführt. Im nahen Hostelviertel hängt abends ein Ballermann-Gefühl über den knallvollen Bars. Die breiten, modernen Promenaden des Parque de los Deseos (Park der Wünsche) sind hippe Treffpunkte mit Cafés, Restaurants und Open-Air- Konzert-Bühne.
Medellíns Kunstszene: bunt, spannend, aufregend
Vor dem Museo de Arte Moderno (MAMM), dem beeindruckenden Bau aus Beton und filigran gestanzten Kupferplatten, machen abends Studentengruppen in weiten Batikhosen Yoga. Dahinter treffen sich auf breiten Treppen Paare und Familien zum Picknick mit ein paar Flaschen Club Colombia, dem lokalen Bier.
„Innovativste Stadt der Welt“, auch das ist Medellín
Und im Botanischen Garten wandert es sich herrlich entspannt – und kostenlos – durch den tropischen Regenwald. Die Wege führen vorbei an Orchideen und Bambusstauden bis zum schicken Restaurant „In Situ“. Begleitet von Vogelgezwitscher schlemmt man dort delikate Fischgerichte und aufregende Gourmetkreationen. Überall scheint etwas zu passieren. 2013 wurde Medellín vom Urban Land Institute sogar als „innovativste Stadt der Welt“ ausgezeichnet.
Vor allem die Gastro-Szene boomt. Carmen Angel und ihr Ehemann Rob Pevitts tragen seit mehr als einer Dekade maßgebend dazu bei, dass die Kulinarik in Medellín immer stärker in den Mittelpunkt rückt. Mittlerweile führt das energische Paar, das sich in der Culinary School in Kalifornien kennen und liebengelernt hat, in Carmens Heimat vier Restaurants mit komplett unterschiedlichen Küchenkonzepten.
Poblado, Nachbarschaft für Gourmetfans
Von selbst gebackenem Brot im „Carmen“ über Steak im „Don Diabolo“ bis zu Sushi im „Moshi“ ist alles dabei. Als Koch könne man sich hier wunderbar ausprobieren, denn „Kolumbianer sind neugierig und offen für alles“, sagt Rob, bevor er in seinem Fermentierungslabor im Obergeschoss verschwindet.
Einen Schritt weiter geht Celebrity-Chef Juan Manuel Barrientos aka Juanma im schicken „El Cielo“ nur ein paar Straßen nördlich. Das experimentelle 15-Gänge-Menü des 38-Jährigen grenzt an Magie: Seine Molekular-Cuisine nimmt einen mit auf eine Reise durch Kolumbien. Lokale Zutaten wie Mais, Kartoffeln oder frischer Lachs kommen als kleine Wunderwerke in Schaum-, Püree- oder Kracker-Form auf den Tisch.
Restaurant „El Cielo“: Gourmet-Spektakel für alle Sinne
Die Highlights sind die „Sensual Experiences“, kulinarische Intermezzos für die Sinne, darunter die Schokoladentherapie: Erst wird warme flüssige Schokolade am Tisch über die Hände gegossen, dann fein geriebener Kaffee und Zucker zu einem Peeling hinzugefügt. Zum Abschluss gibt es eine gigantische Kaffeeshow: Der Kellner stellt kleine Kaffeepflanzen auf den Tisch, dazu kommt eine Schale, aus der weißer Nebel aufsteigt, der sich langsam über den ganzen Tisch ergießt: Man fühlt sich wie früh morgens auf der Kaffeeplantage, wenn der Nebel auf den Hängen schwebt.
Kulinarische Amazonas-Reise: „La Chagra“
Besonders exotisch ist wiederum ein Dinner im „La Chagra“, das Kultur und Küche von Kolumbiens Amazonasregion zelebriert. Chefkoch Juan Santiago Gallego, Medellíns Meister der modernen Urwaldküche, brutzelt hier in der winzigen Küche allabendlich fette Würmer, gesammelt bei Expeditionen durch den Regenwald, in der Pfanne. Die schmecken erstaunlich gut und leicht nussig.
Prall gefüllt mit Kolumbiens kulinarischen Spezialitäten machen wir uns auf den Weg zu Medellíns beliebtestem Aussichtspunkt, dem Cerro Nutibara. Hier oben ist die Luft noch etwas dünner als im Rest der Stadt, die immerhin auf 1.495 Meter Höhe liegt. Die Rundum- Vista ist die Schnappatmung allerdings wert.
Medellíns Hausberg: Cerro Nutibara
Am Fuß des Parks plärrt laute Salsamusik aus überdimensionalen Radioboxen. Wie an so vielen Stellen der Stadt wird auch hier spontan getanzt, in diesem Fall mit schnellen Drehungen und kreisenden Hüften – wesentlich lasziver als die Tangostunde im „Salón Málaga“. „Wir wollen eine saubere Stadt“, sagt German mit im Takt schnippenden Fingern. „Unser Salsatanz wird aber sicher immer ein klein wenig schmutzig bleiben. Und das ist völlig in Ordnung.“
Lust auf mehr Stadt? Wie wäre es mit Seattle ? Oder ein Foodie–Trip mit TV-Koch Johann Lafer nach Singapur? Oder ihr holt euch die ultimativen Tokio-Tipps.
Medellin
INFO MEDELLIN
Schön schlafen
NH Collection Medellin Royal
Die geräumigen, hellen Zimmer mit ultra-langem Tisch passen perfekt zum Business-Stil des Hotels im schicken El Poblado District. Am schönsten sind aber die hohen Palmen rund um die Anlage und ein kleiner, dichter Garten links am Eingang. Das Frühstücksbuffet am Pool stärkt fürs Sightseeing. NH Collection Medellin Royal
Hotel Botanico
Botanisches Grün findet sich in Design, Kissen und den vielen Pflanzen. Lässiger Art-Vibe in den 22 individuell eingerichteten Zimmern. Bonus: der Pool auf dem Rooftop. Tipp: Lieber Delux in den oberen Stockwerken anstatt Standard buchen, dann hat man es heller und ruhiger. Hotel Botanico
Allgemeine Infos
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